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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0013
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XII

Einleitung der Herausgeberin

chen Selbständigkeitsansprüche der Neurologen einzudämmen.38 Die planmäßige Usur-
pation der Nervenkrankheiten hatte die Psychiatrie als Disziplin zwar geprägt und
gestärkt - 1901 war sie in der neuen medizinischen Prüfungsordnung als Prüfungsfach
etabliert worden.39 Nicht alle Psychiater befürworteten aber die Einverleibung der Neu-
rologie. Entgegen dem »Preußischen Modell« der institutionellen Fusion, das sich ab 1904
mit wenigen Ausnahmen - darunter auch Heidelberg - im gesamten Kaiserreich durch-
setzte, hatte sich der Münchner Ordinarius Emil Kraepelin dezidiert, wenn auch vergeb-
lich, für die Trennung der Teilbereiche ausgesprochen: Diese Zwangsehe werde zur »Ver-
kümmerung der psychiatrischen Forschung« führen, so Kraepelin.40
Eine gewisse Atrophie der psychiatrischen Forschung war um die Jahrhundertwende
schon zu spüren. Denn die Einbeziehung der Neuropathologie war auf Kosten der Psy-
chopathologie erfolgt.41 Zum einen hatte die Psychiatrie das Seelenleben der Kranken
ausgeblendet;42 zum anderen hatte sie die erkenntnistheoretischen Fragen außer Acht
gelassen oder besser: »geflissentlich vermieden«, wie der Philosoph und ehemalige Psy-
chiater Theodor Ziehen 1927 rückblickend bekannte.43 Dadurch hatte die Psychiatrie
eine Flanke offengelegt und den Durchbruch einer weiteren Disziplin erleichtert, die
ihrerseits versuchte, sich zu verselbständigen, nämlich der Psychologie. Seit Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts war die Psychologie im Kaiserreich eines der Philosophie
zugeordneten Hilfsfächer und den Lehrenden des Hauptfaches überlassen.44 Diese aka-

38 Vgl. J. Pantel: »Streitfall Nervenheilkunde - eine Studie zur disziplinären Genese der klinischen
Neurologie in Deutschland«, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 61 (1993) 144-156.
39 Vgl. H.-P. Schmiedebach: »Die Integration der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts in die Medizin mit
Hilfe der Neurologie«, in: K.-J. Neumärker u.a. (Hg.): Grenzgebiete zwischen Psychiatrie und Neurologie,
Berlin u.a. 1991, 35-44. Für die universitäre Etablierung der Psychiatrie im Kaiserreich siehe E. J.
Engstrom: Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History ofPsychiatrie Practice, Ithaca, London 2003.
40 Vgl. E. Kraepelin: Lebenserinnerungen, Berlin u.a. 1983,132-133; H. Burghardt: Psychiatrische Uni-
versitätskliniken im deutschen Sprachgebiet(1828-1914), Diss. Köln 1985. Kraepelin sah bereits in sei-
ner Dorpater Antrittsvorlesung (1886) die psychiatrische Forschung >festgefahren< zwischen Hirn-
mythologie und wenig ertragreicher Hirnpathologie und plädierte stattdessen für die
experimentelle Psychologie einerseits wie für die klinische Forschung zur Abgrenzung von Krank-
heitseinheiten andererseits, vgl. E. Kraepelin: »Die Richtungen der Psychiatrischen Forschung«,
in: EmilKraepelin in Dorpat (1886-1891), hg. von W. Burgmair u.a., München 2003, 55-78.
41 Vgl. H.-P. Schmiedebach: Psychiatrie und Psychologie im Widerstreit. Die Auseinandersetzung in der
Berliner medicinisch-psychologischen Gesellschaft (1867-1899), Husum 1986.
42 Dagegen erhob bereits im Jahre 1913 der Psychiater Robert Gaupp seine Stimme, welcher u.a. den
Mangel an »guten und allgemein brauchbaren Untersuchungsmethoden« beklagte (R. Gaupp: »Die
Psychiatrie als Lehr- und Prüfungsgegenstand« in: Münchner medizinische Wochenschrift 50 (1903)
1738-1739, hier: 1739); vgl. auch ders.: »Ueber die Grenzen psychiatrischer Erkenntnis«, in: Cen-
tralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 26 (1903) 1-14.
43 T. Ziehen: »Psychiatrie und Philosophie«, in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 63 (1927)
336-345, hier: 341.
44 Psychologie wurde als allgemein verbindliches Fach in der Prüfungsordnung für den Studiengang
Lehramt eingeführt. Vgl. hierzu H. Gundlach: »Reine Psychologie, Angewandte Psychologie und
die Institutionalisierung der Psychologie«, in: Zeitschrift für Psychologie 212 (2004) 183-199.
 
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