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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0023
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XXII

Einleitung der Herausgeberin

kündigung der Phänomenologie zu lesen. In dem Aufsatz über die phänomenologi-
sche Forschungsrichtung in der Psychopathologie, den Jaspers zwei Jahre später ver-
öffentlichte, griff er dann auf dieselbe Metapher zurück, um den Fachkollegen diese
Erkenntnismethode möglichst anschaulich zu machen.92 Die Phänomenologie war in
der damaligen psychologischen Literatur zwar »ubiquitär«,93 den meisten Psychiatern
jedoch vermutlich nicht geläufig.
Jaspers hatte die Phänomenologie bereits für seine Analyse der Trugwahrnehmun-
gen eingeführt, um die einzelnen Wahrnehmungskomponenten zu isolieren und zu
unterscheiden, jedoch die Methode nicht näher erläutert bzw. missverständlich ein-
gesetzt.94 Erst in seinem programmatischen Aufsatz umriss er die Phänomenologie als
psychopathologische Methode für die Analyse von Einzelfällen. Es wird den meisten
nicht philosophisch geschulten Lesern auch nicht leicht gefallen sein, sich diese Me-
thode genauer zu vergegenwärtigen. Der Hinweis auf Husserl dürfte wiederum die Ein-
geweihten verwirrt haben, denn Jaspers’ Phänomenologie lässt sich mit Husserls »de-
skriptiver Psychologie«95 nur schwer vereinbaren.96 Zumindest hat sie nicht den
absoluten erkenntnisfundierenden Charakter, den Husserls Projekt anstrebt: Einerseits
räumt Jaspers der Einfühlung einen Platz ein, den man beim frühen Husserl noch ver-
geblich sucht; nicht umsonst verweist Jaspers in seinem Phänomenologie-Aufsatz auf
Moritz Geiger.97 Andererseits ergänzt er das phänomenologische Verstehen durch ein
>genetisches<, wie er in der Allgemeinen Psychopathologie hervorhebt: »Im statischen
Verstehen (Phänomenologie) erfassen wir gewissermaßen den Querschnitt des Seeli-
schen, im genetischen Verstehen (verstehende Psychopathologie) den Längsschnitt.98 Die
Phänomenologie ist somit für Jaspers eine grundlegende Methode der Psychopatho-
logie, d.h. diejenige, die jedes weitere Vorgehen erst ermöglicht, aber eben nur eine

92 Jaspers: »Die phänomenologische Forschungsrichtung«, in diesem Band, S. 371-372.
93 S. Luft: »Zur phänomenologischen Methode in Karl Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie«, in:
Rinofner-Kreidl, Wiltsche (Hg.): Karl Jaspers' Allgemeine Psychopathologie, 31-51, hier: 31. Vgl. hierzu
ausführlicher H. Spiegelberg: Phenomenology in Psychology andPsychiatry. A HistoricalIntroduction,
Evanston 1972, bes. 31-66.
94 Vgl. hierzu M. Spitzer: Halluzinationen. Ein Beitrag zur allgemeinen und klinischen Psychopathologie,
Berlin u.a. 1988,190-202.
95 Husserl hatte seine Phänomenologie in Anlehnung an Franz Brentano ursprünglich so benannt.
96 Vergleicht man Husserls und Jaspers’ Phänomenologie, muss man sich vor Augen halten, dass
Husserls »transzendentale Wende< noch bevorstand (vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänome-
nologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phäno-
menologie, Halle a.d.S. 1913). Dies ist für die Allgemeine Psychopathologie, deren erstes Kapitel (»Die
subjektiven Erscheinungen des Seelenlebens«) den Untertitel »Phänomenologie« trägt, ebenfalls
von Relevanz.
97 Vgl. M. Geiger: »Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung«, in: F. Schumann (Hg.): Be-
richt über den IV. Kongreß für experimentelle Psychologie in Innsbruck vom 19. bis 22. April 1910, Leip-
zig 1911,29-73.
98 Jaspers: Allgemeine Psychopathologie [1913], 13.
 
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