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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0025
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XXIV

Einleitung der Herausgeberin

Suche nach den Grundlagen der psychiatrischen Erkenntnis.105 Obwohl Jaspers Weber
erst in seinem Aufsatz über die kausalen und verständlichen Zusammenhänge zitiert,
erscheint die These, dass er die bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen Metho-
dendiskussion - wie Dilthey, Simmel, Rickert, Windelband und sogar Husserl - über
Weber rezipierte, durchaus plausibel.106 Andererseits folgte Jaspers seinem Vorbild ge-
rade in der grundlegenden Verschränkung von Erklären und Verstehen nicht, denn er
fasste durch die Hypostasierung des Nicht-Einfühlbaren als Grenze des Verstehens die
verstehende Psychologie entschieden enger als Weber.107 Dass Weber seinerseits
Jaspers’ selbständigen Beitrag zur Erklären-Verstehen-Debatte wissenschaftlich ach-
tete, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er dessen »verstehende Psychologie« bereits
1913 im gleichen Atemzug mit der eigenen »verstehenden Soziologie« nannte.108 Ins-
besondere scheint Weber an Jaspers’ verstehender Psychologie die Loslösung vom
Freud’schen Begriff des Unbewussten geschätzt zu haben.109
Für Jaspers war Weber bekanntlich der »eigentliche Philosoph der Zeit [...], der
Philosoph, der seine Philosophie nicht direkt aussprach, aber aus ihr lebte und
dachte.«110 Dennoch war er für den jungen Arzt nicht nur ein schweigsames Vorbild;
er gab ihm auch gezielte methodologische und epistemologische Vorgaben: »Ordnung
werden Sie in die Unendlichkeit des Mannigfaltigen ja wohl nur [...] durch die Methode
der >Idealtypen<-Bildung [...] bringen können.«111 In der Tat erkennt man in Jaspers’
Psychopathologie die Wirkung Webers am deutlichsten an dem idealtypischen Zugang

105 Vgl. M. Weber: »Zur Psychophysik der industriellen Arbeit« [1908/09], in: ders.: Gesammelte Auf-
sätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hg. vonM. Weber, Tübingen 1922,61-225. Dieser Aufsatz war
im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik unter dem Titel »Kritische Literatur-Übersichten«
erschienen. An dieser Aufsatzform orientierte sich Jaspers bei seinen eigenen Arbeiten. Vgl. hierzu
Anm. 35. Zu Webers Haltung gegenüber der experimentellen Psychologie vgl. S. Frommer: »Be-
züge zu experimenteller Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Max Webers methodi-
schen Schriften«, in: G. Wagner, H. Zipprian (Hg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation
und Kritik, Frankfurt a.M. 1994, 239-258. Merkwürdigerweise zitiert Jaspers Weber in diesem Zu-
sammenhang nicht.
106 Vgl. hierzu T. Kumazaki: »The theoretical root of Karl Jaspers’ General Psychopathology. Part 2:
The influence of Max Weber«, in: History ofPsychiatry 24 (2013) 259-273. »Mir ging das methodi-
sche Bewußtsein über das Verstehen im Zusammenhang mit der großen Überlieferung auf durch
Max Webers Arbeiten«, hielt Jaspers in der vierten Auflage der Allgemeinen Psychopathologie nach-
träglich fest (AllgemeinePsychopathologie [1946], 250, Anm. 1).
107 Vgl.J. Frommeru.a.: »Max Weber’s influence on the concept ofunderstandingin psychiatry«, in:
History ofPsychiatry 11 (2000) 345-354.
108 Vgl. M. Weber: »Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie« [1913], in: ders.: Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. vonj. Winckelmann, Tübingen 6i985, 427-474. Hier verwies
Weber generell auf »die verschiedenen Arbeiten von K. Jaspers« und »speziell« auf die gerade er-
schienene Allgemeine Psychopathologie (ebd., 427).
109 Vgl. M. Weber an K. Jaspers, 2. November 1912, in: M. Weber: Briefe 1911-1912, hg. von M. R. Lep-
sius und W. J. Mommsen in Zusammenarbeit mit B. Rudhard und M. Schön, Tübingen 1998,730.
110 Jaspers: Die großen Philosophen. Nachlaß 1, 641.
in M. Weber an K. Jaspers, 2. November 1912, in: M. Weber: Briefe 1911-1912, 730.
 
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