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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0056
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Heimweh und Verbrechen

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In dieser Form wurde die Nostalgie in der französischen Literatur bearbeitet in einer
großen Reihe von Schriften bis zur letzten von Benoist.20 Ethnographische Gesichts-
punkte, Bedeutung des Klimas, die körperlichen Erscheinungen, die Rolle der Nostal- 3
gie beim Militär werden eingehend dargestellt. Von einem forensischen Falle kann
man in der französischen Forschung nichts finden. (Über Marc21 s. unt.)
Anders in Deutschland. Während in Frankreich die Nostalgieliteratur trotz ihres
Umfanges in hundert Jahren fast auf demselben Standpunkt steht, knüpft sich in
Deutschland der Fortschritt an die Forschung über die forensische Bedeutung der aus
Heimweh begangenen Verbrechen. Es entstanden klare Fragestellungen, entgegenge-
setzte, sich bekämpfende Meinungen, die eine Stellungnahme der meisten Psychiater
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Folge hatte[n]. Dann schwand das Interesse
für das Heimweh mehr und mehr. In gerichtlich-psychiatrischen Werken wird es noch
immer kurz erwähnt. Zustände, die früher dahin gerechnet wurden, waren durch die
Entwicklung der Wissenschaft abgetrennt worden, bis es zu unserer Zeit fast der Ver-
gessenheit anheimfiel.
Nach dieser allgemeinen Übersicht folge eine spezielle Darstellung der Entwick-
lung der Nostalgielehre. Zunächst handelt es sich um die Heimwehliteratur in dem
ganzen Umfange, den sie durch die Ausdehnung des Nostalgiebegriffs auf viele andere
Krankheiten gewann, dann um ein Referat der französischen Arbeiten und schließlich
um die Entwickelung der forensischen Auffassung. Diese Dreiteilung ist berechtigt,
weil die einzelnen Gebiete nur wenig Einfluß aufeinander übten; französische und
deutsche Arbeiten bleiben fast ganz ohne Fühlung. Auf die forensische Forschung
wirkte wohl die alte Lehre von der Nostalgiekrankheit, aber sie gewann doch eine ganz
unabhängige selbständige Entwickelung.
Im Jahre 1678 verfaßte Joan. Hofer'22 unter seinem Lehrer Joan. Jac. Harder in
Basel als Dissertation eine kleine lateinische Arbeit,23 in der er ein »neues Thema«
ergreift, das noch von keinem Arzt beschrieben sei. Es handle sich um eine Krankheit,
die in Schweizer Mundart Heimweh, in Frankreich mal du pays heiße. Er prägt dafür
den Namen Nostalgia. In 12 Thesen gibt er in präziser Weise seine Anschauungen wie-
der, die in Methode und Resultat ein Ausdruck damaliger medizinisch-wissenschaft-
licher Arbeitsweise sind.

Der antiken Welt waren Gefühle des Heimwehs nicht fremd. Odysseus wird von ihnen gequält
und trotz äußeren Wohlergehens fortgetrieben, Ithaka zu suchen. In Griechenland, insbesondere
in Athen, galt die Verbannung für das größte Übel. Ovid fand später viele Klageworte für seine
Sehnsucht nach Rom, das desiderium patriae. Die verbannten Juden weinten an den Wasserbä-
chen Babels, Zions gedenkend. Wenn es sich hier auch immer um komplexe Gemütszustände ge-
handelt hat, spielte doch wohl das Heimweh in unserem Sinne dabei eine Rolle. Trotzdem fehlen
Wort und Sache sowohl bei Hippokrates wie bei Galenus (Kluge). Dante spricht in seiner Göttli-
chen Komödie von der Abendstunde, wo des Schiffers Herz voll von Heimwehtrieben weich wird.
Doch beginnt erst mit Hofer die eigentliche Heimwehliteratur.
 
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