Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0065
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
22

Heimweh und Verbrechen

Längst haben sich zu den psychischen Symptomen körperliche gesellt. Diese lau-
fen in drei Stadien ab. Im ersten bemerkt man traurigen Blick, blasse Wangen, die psy-
chischen Symptome sind jedoch auffallender. Im zweiten tritt verminderte Eßlust,
kachektisches89 Aussehen, mühsame und schlechte Verdauung ein. Sekretion und
Exkretion sind gestört. Matter Puls, klopfender beschleunigter Herzschlag, Abnahme
der Temperatur, Abmagerung, allgemeines Sinken der Kräfte. Im dritten Stadium stellt
sich hektisches Fieber, Abzehrung und Durchfall ein. Wassersucht führt dann bald
zum Tode. Und noch im Tode denkt der Kranke an seine heiß ersehnte Heimat.
Kurz bespricht Zangerl seiner Einteilung entsprechend die anderen Arten von
Heimweh, empfiehlt z.B. beim verheimlichten das Belauschen, erinnert beim simu-
lierten an das Wort Senecas »curae leves loquuntur, ingentes stupent«.90 Beim kompli-
zierten bemerkt er, daß sich das fieberhafte Heimweh vom Nervenfieber unterscheide
durch die unglaublich schnelle Erholung, die bei gegebener Hoffnung, in die Heimat
zurückkehren zu können, eintrete.
Bei der Schilderung der Entstehungsweise der Nostalgie findet Zangerl in echt
intellektualistischer Psychologie, daß zunächst das Vorstellungsvermögen, dadurch
die Gefühlssphäre, schließlich das Begehrungsvermögen ergriffen werde. Der Kranke
wird erst nachdenkend, vergleicht seine jetzige Lage mit der früheren in der Heimat
und kommt zu dem Schlüsse, daß diese jener vorzuziehen sei. Infolge dieser Vorstel-
lung und der unangenehmen Eindrücke, die er in der Fremde empfindet, erwacht das
Gefühlsvermögen, er fühlt, daß alles, was seinem Herzen teuer war und Nahrung gab,
jetzt mangle und daraus entsteht dann das lebhafte Begehren, der heiße Wunsch, in
sein früheres heimatliches Glück zurückzukehren. Wird diesem Wunsche nicht ent-
sprochen, so folgt eine Reihe körperlicher Leiden.
Hat der Kranke einmal die Vorzüge der Heimat vor der Fremde erkannt, so erlangt
die Tätigkeit des Vorstellungsvermögens eine einseitigere Richtung, nur jene Bilder,
die Bezug auf das Vaterland haben, werden reproduziert. Durch diese Einschränkung
wird er für alle anderen physischen und geistigen Eindrücke gleichsam unzugänglich
gemacht. Der Verstand wird gehemmt. Diese einseitigen und so gearteten Vorstellun-
gen rufen nach und nach einen Gemütszustand herbei, in welchem der Kranke ver-
12 stimmt, traurig, verdrießlich ist, nur | noch Gefühl für sein Vaterland hat, an keinen
Vergnügungen mehr teilnimmt, die Einsamkeit sucht.
Durch die eine dominierende Vorstellung und durch die Macht der beherrschen-
den Gefühle wird die ganze Tätigkeit des Begehrungsvermögens angeregt und auf die
Erfüllung eines einzigen Wunsches gerichtet, nämlich heimzukommen, auch wenn
der Tod ihm droht oder ewiger Kerker.
Sekundär wird der Körper ergriffen. Durch die unausgesetzt einseitige Tätigkeit der
Seele entsteht Schlaflosigkeit, lebhaftes Träumen, Kongestionen zum Kopf, Kopf-
schmerzen. Durch die Macht der deprimierenden Gefühle wird die Vitalität des gesam-
ten Gefäß- und Nervensystems herabgesetzt. »Je mehr die Einbildungskraft durch ihre
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften