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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0069
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Heimweh und Verbrechen

des instinktartigen Seelenlebens ergriffen seien, während bei der Melancholie das
Gehirn als Sitz der bewußten Gemütstätigkeit den locus morbi103 darstelle. Aus dieser
Theorie erklärt er die Prädisposition unkultivierter Menschen und junger Individuen
mit vorwiegend unbewußtem Seelenleben, die Möglichkeit des Schlummerns der
Nostalgie, die dann plötzlich geweckt, aber auch ins Unbewußte zurückgedrängt wer-
den kann, das Nachtwandeln und die körperlichen Folgeerscheinungen. Er hält die
Auffassung Hofers für gut, dessen Lebensgeister, zu Unrecht vergessen, das unbe-
wußte Seelenleben repräsentieren, daß zwar zum Bewußtsein in mannigfachen Bezie-
hungen stehe, aber gleichwohl ein selbständiges Dasein führen könne.
Im Laufe der Zeit waren neben diesen größeren Schriften auch eine Reihe von Dis-
sertationen über Nostalgie erschienen, die unter unvollständiger Wiederholung älte-
rer Angaben ein schematisches Krankheitsbild entwerfen mit Ätiologie, Symptomato-
logie, Diagnostik, Prognose, Therapie, ohne daß man ihnen einen eigenen Wert
zusprechen könnte (Andresse,104 Grundtmann,103 Matthaei,106 Chatelain).10?
Es scheint, daß trotz der zahlreichen Heimweharbeiten, obgleich auch in fast allen
Lehrbüchern die Nostalgie kurz notiert war, dieser Krankheitsbegriff in der Mitte des Jahr-
hunderts in ziemliche Vergessenheit geraten war, wenigstens meint L. Meyer' (1855),108
daß das Heimweh noch weniger Berücksichtigung als in den Kliniken in den klinischen
Handbüchern finde, worauf Damerow109 in seinem Referat der Meyerschen Arbeit die
Literatur rekapituliert und hinzufügt, daß mit dem Aufhören der Ursachen des Heimwehs
wegen der veränderten Reise- und Lebensverhältnisse und Anschauungen auch die
Literatur darüber nachgelassen habe, wie das bei manchen anderen nach näheren oder
entfernteren Ursachen benannten psychischen Krankheitsarten der Fall sei.
Meyer nun veröffentlicht 1855 fünf Fälle von Wahnsinn aus Heimweh.
Ein von jeher stilles, langsames, unbehilfliches Mädchen von 24 Jahren nimmt nach langem
Zureden von Braunschweig aus einen Dienst in Berlin an. Sie kam zum ersten Male aus dem
Elternhause, betrieb die Vorbereitungen zur Abreise schwerfällig und war noch am Tage der
Abreise ängstlich. In Berlin wurde sie durch Besuche des dort anwesenden Bräutigams und die
freundliche Behandlung in der ersten Zeit aufgeheitert, doch die Ängstlichkeit wich auch nach
mehreren Wochen nicht von ihr. Sie wurde mit der Arbeit so schlecht fertig wie in den ersten
Tagen. Oft saß sie verträumt im Winkel und weinte. Appetitabnahme, schlechtes Aussehen. »Es
sei ihr so schwer in den Gliedern gelegen, daß sie sich zu jeder Arbeit habe zwingen müssen. Sie
sei traurig gewesen ohne zu wissen warum. Alles sei ihr fremd vorgekommen. Dann sei es ihr
wieder gewesen, als sei sie nur von Bekannten umgeben, daß jeden Augenblick Mutter oder
Schwester hereintreten müsse.« Stimmen der Leute hielt sie für solche heimatlicher Bekannter,
bis sie sich vom Irrtum überzeugte. Eine Nacht sah sie Mutter und Schwester umhergehen. Die
nächste Nacht wieder. Sie stand auf, um der Schwester Geld zur Rückreise zu geben, wurde auch
16 tatsächlich mit mehreren Talern in der Hand ins Bett zurückgebracht. | Eines Tages blieb sie im
Bett, hatte Gliederschmerzen, Schwere im Kopf und im ganzen Körper, sprach wenig, aß nichts,

Später Professor in Göttingen.
 
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