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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0075
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Heimweh und Verbrechen

Die beiden Arbeiten von Haspel und Benoist erschienen auf eine Preisfrage der
Akademie im Jahre 1873. Weil Benoist als der Vorgeschrittenere erscheint, besprechen
wir zuerst Haspel.
Dieser hat auf Grund einer 40jährigen Erfahrung als Militärarzt und einer sehr ein-
gehenden Berücksichtigung der französischen Literatur ein mit zahlreichen eigenen
Beobachtungen versehenes Werk veröffentlicht, das wohl das umfangreichste ist, das
je über das Heimweh geschrieben wurde.
Er hält die Nostalgie für eine sehr häufige Krankheit, wenn sie auch durch die moder-
nen Verkehrsverbindungen und den Ausgleich der Unterschiede der Länder und Sitten
abgenommen hat. Er beklagt sich, daß man sie übersehen habe über das Studium der
körperlichen Folgen, ja man habe sogar das Heimweh, die eigentliche Ursache, für das
Sekundäre gehalten. Hieraus geht der Standpunkt des Verfassers deutlich hervor. Wo
er überhaupt Heimweh findet, hält er dieses für die eigentliche Krankheit. Was je als
zusammentreffend mit Heimweh beschrieben wurde, trägt er zusammen und in der
Absicht, alle Erscheinungsformen zu berücksichtigen, beschreibt er neben der »einfa-
chen Nostalgie ohne Komplikationen von seifen der Organe des Körpers« die »akute
zerebrale Nostalgie« (dazu rechnet er die Fälle Larreys) mit Konvulsionen, Bewußt-
seinsverlust usw., die »chronische zerebrale Nostalgie«, ferner die »akute« und »chro-
21 nische gastrointestinale«. Er konstatiert ihren ungünstigen Einfluß auf den Ablauf von
Pulmonal- und Pleuralaffektionen, insbesondere auf die Phthisis, bei der schon
Laennec150 die Wirkung trauriger Gemütsbewegungen betont habe. Weiter sollen Herz-
affektionen, selbst Klappenfehler und Aneurysma151 durch Nostalgie entstehen.
Corvisart habe Herzerscheinungen nach Kummer gesehen152 und er schließt sich des-
sen Mahnung an, den »moralischen Menschen«153 nicht zu vernachlässigen. Schließ-
lich soll es noch eine »hektische Nostalgie« geben. Endlich steht das Heimweh in Bezie-
hung zum Ablauf epidemischer Krankheiten, die dadurch sehr verschlimmert werden.
Alle diese einzelnen Gruppen werden von Haspel eingehend in großer Breite
geschildert. Viele »Beobachtungen« sind eingestreut. Diese sind kurz, ohne Methode
in der Untersuchung, für moderne Zwecke unbrauchbar. Trotzdem will er durch sie
die »wenig genauen Beobachtungen der Ärzte des ersten Kaiserreichs«154 (Larrey,
Desgenettes,155 Broussais, Laurent und Percy)156 ergänzen.
Das Vorwort, mit dem Benoist de la Grandiere sein Buch eröffnet, ist vertrauener-
weckend. Er will kein literarisches, sondern ein medizinisches Bild der Krankheit geben
und die Zitate aus Dichtern durch Beobachtungen von Ärzten ersetzen. Doch sind diese
Beobachtungen in keiner Hinsicht besser als die seiner Vorgänger; sie sind zahlreich, aber
alle so allgemein und novellistisch gehalten, daß man nicht einmal die Überzeugung
gewinnt, es liege eine Krankheit vor, oder wenn dies der Fall ist, sie rühre vom Heimweh
her. Er faßt, was seine Vorgänger geschrieben haben, zusammen, das Heimweh bei ver-
schiedenen Völkern, seine Ursache in Alter, Geschlecht, Erziehung, sozialer Stellung. Er
schildert in plastischer Weise die Symptome der psychischen Alteration, vermeidet, alle
 
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