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Heimweh und Verbrechen
Nachher trifft man sie wieder weinend und angstvoll im Bett. Nach dem Heimweh gefragt sagt
sie ganz spontan: »Jetzt will ich wieder heim, wie ich daheim war, wollt ich hierher ... Ach, Herr
Doktor, bei mir wechselt die Stimmung alle Minuten, jede Minute ist anders, so unbeständig.«
Ferner mag hier noch an die epileptoiden Verstimmungen erinnert sein, die sich
so oft als Heimweh darstellen. Es ist zwar bis jetzt kein Fall bekannt, wo mit dem Beginn
des Dienstes bei einem Mädchen ein echter manisch-depressiver Anfall oder eine epi-
leptische Verstimmung zusammentraf und so vielleicht die äußere Erscheinungsweise
unserer Heimwehzustände hätte hervorrufen können. Doch ist das an sich möglich
und es muß im Einzelfalle daran gedacht werden.
Unsere Fälle gehören zu i oder liegen zwischen i und 2. So tritt bei Apoll, in den
späteren kurz dauernden, leichten Heimwehstimmungen das endogene Moment deut-
lich hervor. Inzwischen sind sie ganz verdrängt worden von periodischen einen hal-
ben bis einen ganzen Tag dauernden Zuständen von gegenstandsloser Traurigkeit oder
auch von Gereiztheit. Bei der Philipp wird von fortgesetzter Verstimmung und peri-
odischen Gewissensregungen aus dem Gefängnis berichtet.
Auf der anderen Seite ist oft das Heimweh vom Zeitpunkt des Verbrechens an end-
gültig verschwunden (Eva B., Hettich L, Rüsch). Auch bei Krebs hörte es auf, aber in
der Gefangenschaft trat an dessen Stelle anscheinend eine Haftpsychose. Ein charak-
teristisches Zusammentreffen! Sind doch Haftpsychose wie Heimwehpsychose patho-
logische Reaktionen auf eindrucksvolle Erlebnisse, die schon bei Gesunden lebhafte
Gemütsbewegungen erzeugen. Das Verschwinden des Heimwehs nach der Tat ist viel-
leicht vergleichbar dem Schwinden hypochondrischer Verstimmung bei Psychopa-
then durch stark affektbetonte Erlebnisse. Die Seele wird durch die neuen Ereignisse
so erfüllt, daß für die alte Verstimmung kein Raum mehr ist.
Wie unterscheidet sich nun eine pathologische Heimwehverstimmung vom nor-
malen Heimweh? Die Grenzen sind natürlich ganz fließende, und da es sich überhaupt
um Grenzzustände handelt, ist die Frage, krankhaft oder nicht krankhaft, ziemlich
belanglos gegenüber der anderen: was kommt wirklich vor? Immerhin wird man als
Merkmal des Pathologischen anführen dürfen die Stärke der Verstimmung, ihre Nach-
haltigkeit, ihre somatischen Folgeerscheinungen (Appetitverlust, Schlafstörungen,
körperliche Lokalisation der Angst), ihre Wirkung auf das ganze Handeln und schließ-
lich ihre Neigung zu endogenen Beimengungen.
Die von Heimweh Befallenen pflegen oft Versuche zu machen, auf natürliche Weise
heimzukommen. Apoll, richtet viele Bitten an die Eltern, heimbleiben zu dürfen,
Hettich I. versuchte zu entlaufen und brauchte Notlügen. Spitta lief nach Hause und
wurde durch Prügel gezwungen zurückzugehen. Eva B. flehte die Mutter unter Tränen
an, nicht in die Stellung zurückkehren zu müssen. Hohnbaum tat dasselbe. Doch sind
solche Versuche manchmal gering oder werden aufgegeben oder fehlen auch ganz.
Die Gefahr, zu Hause übel empfangen zu werden, Prügel zu erhalten (Hettich I, Apoll.)
Heimweh und Verbrechen
Nachher trifft man sie wieder weinend und angstvoll im Bett. Nach dem Heimweh gefragt sagt
sie ganz spontan: »Jetzt will ich wieder heim, wie ich daheim war, wollt ich hierher ... Ach, Herr
Doktor, bei mir wechselt die Stimmung alle Minuten, jede Minute ist anders, so unbeständig.«
Ferner mag hier noch an die epileptoiden Verstimmungen erinnert sein, die sich
so oft als Heimweh darstellen. Es ist zwar bis jetzt kein Fall bekannt, wo mit dem Beginn
des Dienstes bei einem Mädchen ein echter manisch-depressiver Anfall oder eine epi-
leptische Verstimmung zusammentraf und so vielleicht die äußere Erscheinungsweise
unserer Heimwehzustände hätte hervorrufen können. Doch ist das an sich möglich
und es muß im Einzelfalle daran gedacht werden.
Unsere Fälle gehören zu i oder liegen zwischen i und 2. So tritt bei Apoll, in den
späteren kurz dauernden, leichten Heimwehstimmungen das endogene Moment deut-
lich hervor. Inzwischen sind sie ganz verdrängt worden von periodischen einen hal-
ben bis einen ganzen Tag dauernden Zuständen von gegenstandsloser Traurigkeit oder
auch von Gereiztheit. Bei der Philipp wird von fortgesetzter Verstimmung und peri-
odischen Gewissensregungen aus dem Gefängnis berichtet.
Auf der anderen Seite ist oft das Heimweh vom Zeitpunkt des Verbrechens an end-
gültig verschwunden (Eva B., Hettich L, Rüsch). Auch bei Krebs hörte es auf, aber in
der Gefangenschaft trat an dessen Stelle anscheinend eine Haftpsychose. Ein charak-
teristisches Zusammentreffen! Sind doch Haftpsychose wie Heimwehpsychose patho-
logische Reaktionen auf eindrucksvolle Erlebnisse, die schon bei Gesunden lebhafte
Gemütsbewegungen erzeugen. Das Verschwinden des Heimwehs nach der Tat ist viel-
leicht vergleichbar dem Schwinden hypochondrischer Verstimmung bei Psychopa-
then durch stark affektbetonte Erlebnisse. Die Seele wird durch die neuen Ereignisse
so erfüllt, daß für die alte Verstimmung kein Raum mehr ist.
Wie unterscheidet sich nun eine pathologische Heimwehverstimmung vom nor-
malen Heimweh? Die Grenzen sind natürlich ganz fließende, und da es sich überhaupt
um Grenzzustände handelt, ist die Frage, krankhaft oder nicht krankhaft, ziemlich
belanglos gegenüber der anderen: was kommt wirklich vor? Immerhin wird man als
Merkmal des Pathologischen anführen dürfen die Stärke der Verstimmung, ihre Nach-
haltigkeit, ihre somatischen Folgeerscheinungen (Appetitverlust, Schlafstörungen,
körperliche Lokalisation der Angst), ihre Wirkung auf das ganze Handeln und schließ-
lich ihre Neigung zu endogenen Beimengungen.
Die von Heimweh Befallenen pflegen oft Versuche zu machen, auf natürliche Weise
heimzukommen. Apoll, richtet viele Bitten an die Eltern, heimbleiben zu dürfen,
Hettich I. versuchte zu entlaufen und brauchte Notlügen. Spitta lief nach Hause und
wurde durch Prügel gezwungen zurückzugehen. Eva B. flehte die Mutter unter Tränen
an, nicht in die Stellung zurückkehren zu müssen. Hohnbaum tat dasselbe. Doch sind
solche Versuche manchmal gering oder werden aufgegeben oder fehlen auch ganz.
Die Gefahr, zu Hause übel empfangen zu werden, Prügel zu erhalten (Hettich I, Apoll.)