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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0143
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IOO

Heimweh und Verbrechen

Menstruationspsychosen auf der anderen Seite), so können wir auch das Heimweh
nicht als besondere Krankheit, sondern nur als eine charakteristische Reaktion z.B.
analog einer Haftpsychose auffassen1.
Die Individuen, die vom Heimweh befallen werden, können der verschiedensten
Art sein, was sie gemeinsam haben, ist die psychopathische Konstitution. Es können
Schwachsinnige und Begabte, moralisch minderwertige und sittlich hochstehende
Individuen sein. Das charakteristische, reine, typische Heimweh finden wir aber grade
bei den nicht schwachsinnigen und nicht moralisch degenerierten Individuen.
Kommt Schwachsinn oder moral insanity bei einem Heimwehverbrecher vor, so ist
das eine Komplikation, die mit dem Heimweh nur den Zusammenhang hat, daß jene
einen degenerativen Zustand darstellen, während das Heimweh eine degenerative
Reaktion ist“.
80 | Doch wenn wir auch Schwachsinn oder moralische Minderwertigkeit nicht als
notwendig zum Heimwehverbrechen betrachten, so ist doch, wie wir sahen, eine Vor-
bedingung immer vorhanden, die relativ kindliche Entwicklungsstufe. Dies ist auch
der Grund, warum manche im Eifer, die Fälle in gebräuchlichem Schema unterzubrin-
gen, sie in das Fach Schwachsinn einordnen. Nicht Schwachsinn ist es, sondern ein
durch Erziehung und Umgebung eng gebliebener Horizont, nicht Unmoral, sondern
Begrenztheit der Gefühle auf kindliche Lebensgebiete, die man bei den Heimwehver-
brecherinnen findet.
An die Spitze der forensischen Betrachtung wird man den Satz von Gross stellen dür-
fen: »Der Arzt ist stets zu fragen, wenn man Heimweh als Grund des Verbrechens ver-
mutet.«292 Die Grenze des Krankhaften ist in solchen Fällen immer nahe, und es ist
Sache des Psychiaters, zu beurteilen, wo sie überschritten ist. Das ist keine leichte Auf-
gabe. Es bedarf selbstverständlich einer eingehenden Untersuchung der gesamten Per-
sönlichkeit und aller Umstände der Tat. Dann ist sorgfältig zu erkunden, wie weit Heim-
weh, wie weit Unzufriedenheit und Unlust am Dienst eine Rolle spielen. Ist doch erstere
eine sittlich indifferente, keine Schuld begründende Verstimmung, während letztere
sogleich sittlich zu bewertende Motive dar stellen. Je mehr Unzufriedenheit, die wohl
kaum ein krankhafter Affekt werden kann, in den Vordergrund rückt, desto mehr kann
man normale, unsittliche Motivierung und Zurechnungsfähigkeit annehmen.
Bleibt schließlich Heimweh allein übrig, so ist dessen Stärke in Betracht zu ziehen.
Es ist möglich, daß bei geringgradigem Heimweh sittlich schwache Naturen unterlie-
gen, nachdem sie einen annähernd normalen Kampf der Motive hinter sich haben.
Diese wären je geringer das Heimweh war desto zurechnungsfähiger. Doch sind solche
i Vgl. die Ausführungen von Wilmanns in seinen »Gefängnispsychosen«, Halle 1908.
ü Doch darf man trotz dieser schematischen Auffassung nicht alle Menschen mit gesteigertem
Heimweh für degeneriert halten. Grade beim Heimweh spielen die Milieuverhältnisse, wie aller-
dings bei allen psychopathischen Erscheinungen eine große Rolle. Wir betonten den engen Ho-
rizont, die ländliche Abkunft, die tiefe Bildungsstufe als bedeutsame Faktoren.
 
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