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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0299
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

216 | Wird, nachdem die Frage der Realität aufgeworfen ist, der bloße Wirklichkeitscha-
rakter durch ein ausdrückliches Urteil über die Realität verdrängt, so können wir dies
ein unvermitteltes Realitätsurteil nennen, wenn es sich ausschließlich auf die eine gegen-
wärtig erlebte Leibhaftigkeit stützt, dagegen vermitteltes Realitätsurteil, wenn es auf
einer breiteren Basis von Erinnerungen und anderen Urteilen erwächst.
Das unvermittelte Realitätsurteil tritt gegenüber jeder Leibhaftigkeit, wie ohne wei-
teres verständlich ist, mit psychologischem Zwange ein. Daß die Erde eine Scheibe ist,
daß Sonne und Sterne auf- und untergehen und sich Tag für Tag um uns drehen, das
ist so leibhaftig wahrgenommen, daß es notwendig für wirklich gehalten werden
mußte, bis durch umständliche und schwierige Erwägungen auf Grund planmäßiger
Wahrnehmungen das vermittelte Realitätsurteil auftreten konnte: das ist nicht wirk-
lich so, sondern die Erde ist eine Kugel und dreht sich um sich selbst und um die Sonne.
Das Prinzip, nach dem die Wahrheit in vermittelten Realitätsurteilen gesucht wird,
besteht in der Forderung widerspruchslosen Zusammenhangs zwischen verschiedenen
Wahrnehmungen. Wenn ich dieselben Linien bei der Zoellnerschen Täuschung bald
parallel, bald geneigt sehen kann, so kann doch nur eine Wahrnehmung richtig sein.
Die Herbeiziehung weiterer Wahrnehmungen, etwa der Messung, entscheidet für eine
von beiden Möglichkeiten. Erinnerungen früher gemachter Wahrnehmungen und
Urteile von logischer Evidenz werden so herbeigezogen, um zum vermittelten Reali-
tätsurteil zu kommen, das kritischen Anforderungen entspricht. Niemals besteht für
den kritischen Verstand die Zuverlässigkeit in dem einzelnen Urteil, der einzelnen Erin-
nerung und der einzelnen Wahrnehmung, sondern erst ihre widerspruchslose Über-
einstimmung, die nach mannigfachen Seiten geprüft wird, gibt Sicherheit.
Die kritische Begründung der vermittelten Realitätsurteile findet, wie man sieht,
kaum je ihr Ende. Immer Weiteres kann zur Erwägung herbeigezogen werden. Die
Sicherheit ist nie endgültig. Wen einmal der Zweifel erfaßt hat, so daß er auf diesem
Umweg zum sicheren Realitätsurteil kommen will, den verläßt auch die Skepsis in das
einzelne Resultat nicht mehr. Wie weit der einzelne Mensch, wie weit - für das Thema
der vorliegenden Arbeit - der einzelne Kranke auf diesem Wege vorwärts schreitet, ist
natürlich sehr verschieden, wie wir an einzelnen Beispielen sehen werden. Der Ver-
stand als Werkzeug, als Fähigkeit des Denkenkönnens, und die Persönlichkeit mit ihrem
mehr oder weniger lebhaften kritischen Bedürfnis sind je nach ihrer Art die Bedingung
dafür, wie weit das Individuum mit seinen objektiven Erwägungen kommt.
Außer diesen objektiven Urteilen, die selbst eingesehen werden, hat das vermittelte
Realitätsurteil noch eine andere Quelle. Die wenigsten Menschen haben es selbst
durchdacht und nachgeprüft, warum es wirklich ist, daß die Erde sich um sich selbst
dreht und um die Sonne. Weil sie es lernen und weil sie es ihren Lehrern glauben und
der allgemeinen Meinung der Zeit folgen, urteilen sie auch so. Bildungsstufe und Kul-
turkreis beeinflussen so in ausgedehnter Weise unsere vermittelten Realitätsurteile. Wir
können nun einsichtige und geglaubte vermittelte Realitätsurteile gegenüberstellen.
 
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