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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0325
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

geschrieben habe, schilderte, daß er die handelnden Personen völlig deutlich sprechen
hörte, und daß er nur schrieb, was er hörte. Es sei zwar ganz leise gewesen, etwa so wie
aus dem dritten Zimmer kommend. Aber er habe es ganz deutlich und passiv gehört,
indem er ein Wurmloch im alten Tische ansah. Hier war es nach den weiteren Umstän-
den ganz sicher, daß es sich nur um lebhafte, unwillkürliche Vorstellungen handelte
(wie so viele Dichter sagen, daß nicht sie dichten, sondern daß »es dichtet«), nicht um
Halluzinationen. Aber selbst hier passiert es einem begrifflich geschulten Menschen,
daß er Vorstellungen in den objektiven Raum lokalisiert, oder vielmehr, daß er sie loka-
lisiert meint, während sie in Wirklichkeit nicht dort lokalisiert waren.
Es ist hier daran zu erinnern, daß es bei akustischen Wahrnehmungen relativ leicht
239 ist, unklar lokalisierte willkürlich irgendwo zu lokalisieren. Man | kann manchmal
Geräusche abwechselnd links oder rechts oder hinten hören, wie man will. Diese Illu-
sion kann ganz leibhaftig sein. Daß mit Vorstellungen, die die Eigenschaften von Pseu-
dohalluzinationen haben, ähnlich verfahren wird, ist nicht unverständlich. Die akusti-
sche Pseudohalluzination wird dann in den optischen vorgestellten gerade umgebenden
Raum lokalisiert. Man stellt sich das nebenliegende Zimmer vor und hört daher ver-
meintlich die Stimme. Daß hier die wirkliche Umgebung, obgleich sie gleichzeitig wirk-
lich ist, doch in diesem Erlebnis als vorgestellte funktioniert, entgeht dem psychologisch
ungeschulten Blick.
Der nächste Fall wird uns weiter über diese räumliche Lokalisation akustischer Wahr-
nehmungen und Vorstellungen belehren*. Uns ist hier wichtig zu demonstrieren, daß
das psychologische Urteil ein Faktor ist, dessen sorgfältige Berücksichtigung und Kritik es
uns erst ermöglicht, auf der einen Seite zur Feststellung des Tatbestandes der sinnlichen
Phänomene, auf der anderen Seite zum Verständnis des Realitätsurteils zu kommen.
Das Realitätsurteil war in diesem Falle nicht von der absoluten Sicherheit wie in dem
vorigen Falle des Fräulein Merk. Unser Kranker war vorsichtig. »Merkwürdige Sachen«
konstatierte er. Bei seiner Ängstlichkeit fürchtete er vielleicht, es könne etwas so Ent-
setzliches wie Gedankenübertragung geben. Vielleicht mochte dies Entsetzliche, das
Furcht ein jagte, dabei eine solche Persönlichkeit zugleich reizen. Auf alle Fälle äußerte
er Zeichen der Beruhigung darüber, vom Arzt die Versicherung zu bekommen, daß es
so etwas nicht gäbe.
Trotz des Schwankens machte dieser Kranke den Eindruck, daß ihm von Anfang an
die Unwirklichkeit aller seiner Trugwahrnehmungen klar, und daß sein Zweifel nicht
ernst gemeint war. Er bot so den umgekehrten Eindruck, wie viele andere Kranke, die
scheinbar zum Teil einsichtig über ihre Stimmen reden, denen man aber anmerkt, daß
i Vgl. die Bemerkungen zur Lokalisation im subjektiven oder objektiven Tonraum auf S. 249 ff. Es
kommt uns hier nicht darauf an, diese Probleme, die dem akustischen Sinnesgebiet im besonde-
ren angehören, zu erledigen. Dazu fehlt uns betreffs der Trugwahrnehmungen auf diesem Gebiet
das ausreichende Material an Eigenbeobachtungen Kranker. Die Prinzipien der Analyse und die
Fragen, die hier noch offen bleiben, darzulegen, muß uns genügen.
 
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