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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0419
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376 Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie
Sie unterscheiden sich von normalen Vorstellungen durch große sinnliche Bestimmt-
heit, Deutlichkeit, Detailliertheit, durch Auftreten unabhängig vom Willen und gegen
ihn, somit durch das Erlebnis der Passivität und Rezeptivität. Von den Trugwahrneh-
mungen wie von normalen Wahrnehmungen unterscheiden sie sich aber durch ihr
Auftreten nicht im äußeren Raum zugleich mit den Wahrnehmungen, sondern im
inneren Raum, in dem wir auch die Vorstellungen vor uns sehen. Diese Pseudohallu-
zinationen hat man mit theoretischen Bedenken angegriffen. Es handelt sich jedoch
ausschließlich um ein phänomenologisches, deskriptives Problem. Man kann die
beschriebenen Fälle phänomenologisch anders vergegenwärtigen in einer vielleicht
evidenteren Weise. Man kann dazu andere Fälle (Selbstschilderungen, Ergebnisse von
Explorationen) heranziehen, aber nur durch solche anschauliche Vergegenwärtigung,
nie durch theoretische Erwägungen ist Kandinsky zu widerlegen. Das Bewußtsein von
der Selbständigkeit der phänomenologischen Aufgabe bewahrt hier vor völlig mißver-
stehenden und daher unfruchtbaren Kritiken, b) Kranke erleben nicht selten ein Phä-
nomen, in dem ihnen in eindringlicher Weise bewußt wird, daß hinter ihnen oder
über ihnen jemand ist. Dieser Jemand dreht sich mit ihnen, wenn sie sich umschauen.
Sie »fühlen« es, es ist »wirklich« jemand da. Aber sie empfinden keine Berührung, sie
empfinden gar nichts, sie können ihn auch nicht zu Gesicht bekommen. Manche
Kranke urteilen trotzdem: es ist niemand da, andere sind überzeugt von dem Dasein
dieses Jemand, dessen Gegenwart sie sich so leibhaftig bewußt sind. Es handelt sich
hier offenbar nicht um Sinnestäuschungen, insofern das sinnliche Element fehlt, es
handelt sich nicht um Wahnideen, insofern ein Erlebnis vorhanden ist, das selbst erst
323 im Urteil richtig oder wahnhaft ver| arbeitet wird'.812 c) Noch ein drittes Beispiel, aus
dem Reich der Gefühle, soll veranschaulichen, daß man durch bloßes Versenken in
einzelne Phänomene ohne System und ohne Theorie zu einer Vergegenwärtigung und
Bestimmung solcher Phänomene kommt, die zunächst einfach aneinandergereiht
werden. Man spricht von ekstatischen Gefühlen. In diesen kann man schnell, wenn
nicht verschiedene Phänomene, doch verschiedene Nuancen unterscheiden - auf die
Richtigkeit des einzelnen Beispiels kommt es hier natürlich nicht an. Man findet
erstens eine allgemeine Begeisterung, Rührung, Ergriffenheit über alles Mögliche,
zweitens eine tiefe innere Seligkeit, die hier und da eine beglückende Vorstellung aus
sich erzeugt, drittens ein Gefühl seliger Erhöhung und Begnadung, Heiligung und gro-
ßer Bedeutung. Solche und ähnliche schnell zu machende Unterscheidungen bedür-
fen, wenn sie Wert haben sollen, des phänomenologischen Ausbaus, respektive der
Richtigstellung und der phänomenologischen Fixierung.
Wir kennen jetzt die Mittel der psychopathologischen Phänomenologie (Ausdrucks-
bewegungen, Exploration, Selbstschilderungen) und die Wege des Hinleitens zur eige-

Diese und ähnliche Phänomene beschreibe ich bald an anderer Stelle an der Hand von Fällen als
»leibhaftige Bewußtheiten«.
 
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