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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0428
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Psychologie. Beide kommen sich gegenseitig nicht ins Gehege, und keine hat das
Recht, die andere zu kritisieren, da beide ganz verschiedene Ziele verfolgen. Die Lei-
stungspsychologie, die nur experimentell zu brauchbaren Ergebnissen kommen kann,
verfährt in der Weise, daß den Versuchspersonen Aufgaben gestellt werden, deren
Lösungen nach verschiedenen Maß | Stäben gemessen werden. Die Abhängigkeit der Lei- 331
stungen von verschiedenen Faktoren wird durch Wechsel der Bedingungen planmä-
ßig untersucht und dadurch langsam die komplexe Leistung in elementarere Leistun-
gen analysiert; es werden Ursachen ihrer Entstehung gefunden und Theorien über
kausale Verkettungen gebildet. Untersuchungen des Gedächtnisses, der Wahrneh-
mung, des Bewußtseinsumfanges, der Arbeitsfähigkeit usw., alle verfahren im Prinzip
auf dieselbe Weise und haben im Laufe der Jahrzehnte den wertvollen Bau der physio-
logischen Psychologie geschaffen, die nur von geisteswissenschaftlichen Forschern,
die fälschlich die verstehende Psychologie für die einzige hielten, in ihrem Werte ver-
kannt wurde'.826 Diese Leistungspsychologie will gar nichts verstehen, sie versetzt sich
auf keine Weise in Seelisches hinein, sondern behandelt im Prinzip den ganzen psy-
chophysischen Mechanismus wie ein seelenloses Lebewesen, dessen Funktionen
untersucht werden. Sie vermag als objektive Psychologie (gegenüber der verstehenden
Psychologie und Phänomenologie als subjektiver Psychologie) zu außerordentlich exak-
ten Resultaten zu kommen. Sie kann aber ihrem Wesen nach auf phänomenologische
Fragen und auf Fragen der verstehenden Psychologie nie eine Antwort geben. Wie es
falsch ist, daß manche Geisteswissenschaftler die Leistungspsychologie an sich verach-
ten, ebenso falsch ist es, daß naturwissenschaftlich gerichtete, nur Sinnliches, nur
Experiment und Statistik anerkennende Forscher die verstehende Psychologie verach-
ten. Die Forschungsrichtungen verfolgen ganz verschiedene Ziele. Der Fehler entsteht
erst, wenn sie sich ersetzen und fälschlich aus dem einen in das andere Gebiet etwas
übertragen wollen.
4. Die Evidenz des genetischen Verstehens und die Herkunft derselben. Wenn Nietzsche
uns überzeugend verständlich macht, wie aus dem Bewußtsein von Schwäche, Arm-
seligkeit und Leiden moralische Prinzipien, moralische Forderungen und Erlösungs-
religion entspringen, weil die Seele auf diesem Umweg trotz ihrer Schwäche ihren Wil-
len zur Macht befriedigen will,827 so erleben wir eine unmittelbare Evidenz, die wir
nicht weiter zurückführen, nicht auf eine andere Evidenz gründen können. Auf sol-
chen Evidenzerlebnissen gegenüber ganz unpersönlichen, losgelösten, verständlichen
Zusammenhängen baut sich alle verstehende Psychologie auf. Solche Evidenz wird
aus Anlaß der Erfahrung gegenüber menschlichen Persönlichkeiten gewonnen, aber

Die experimentelle Psychologie hat mit der Külpeschen Schule eine ganz neue Entwicklung über
die Leistungspsychologie hinaus genommen, indem die Experimente mit planmäßiger Selbstbe-
obachtung die Phänomenologie fördern. Die Leistungspsychologie erfordert Experimente. Aber
nicht alle Experimente dienen bloß der Leistungspsychologie, wenn auch die meisten.
 
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