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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0501
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

4. Juni 1912.
»Geehrter Herr Doktor! Seit gestern bin ich nun hier und fühle mich in dieser prachtvol-
len Umgebung trotz der vorüberstreichenden Regenwetter recht behaglich. Daß man mich
meiner alten Freiheit zurückgegeben, hat bis jetzt keine Rückschläge gezeitigt und ich
glaube auch mit ziemlicher Bestimmtheit, daß in absehbarer Zeit keine mehr folgen wer-
den. Es sind nur ganz wenig Fremde hier und das ist mir nur angenehm. Die Vögel zwit-
schern hier ganz anders als in Heidelberg, die Lokomotiven stoßen mit ganz anderen
Tönen ihren Rauch durch Schlot und Pfeife in »höhere Lüfte«. Die Bäume rauschen hier,
wenn der Wind hindurchfährt, um vor dem Kausalitätsgesetz ihre Reverenz zu erweisen.
Nur eins scheint mir noch das gleiche. Soll ich es Ihnen verraten? Ich riskiere viel, wenn
ich es tue. - Aber Sie sind nun doch einmal in so vielen Dingen mein Vertrauter geworden,
daß ich auch damit nicht zurückhalten will. Manchmal so in der Dämmerung, ich sitze
gedankenlos auf meinem sechsfenstrigen Turmstübchen und höre das einförmige Ketten-
klingen der Schleppschiffe auf dem Flusse, da empfinde ich noch hie und da wie der Boden
ganz plötzlich aufkreischt, wenn man im Zimmer nebenan einen schweren Schrank oder
ein eichenes Sopha von der Stelle schiebt. Stößt des morgens in aller Frühe mein Zimmer-
nachbar zornig einen Stuhl auf den Estrich, weil er ihm im Wege steht, während er nach
seinem hinteren Kragenknöpfchen sucht, das im Laufe der Nacht vom Nachttischchen
herab wohl unter die Bettlade gefallen sein muß - wo sollte es denn sonst hingefallen
sein? - so fühle ich auch, wie der ganz gut verdiehlte Boden trotzig gegen diesen ungerech-
ten Druck dawiderdrückt und nicht nachgibt. Und er ist bloß deshalb so stark, weil er sich
im Rechte fühlt und die Kraft hat.
Was hingegen das Staatsexamen anlangt oder jene Bücherofferte, die zu mancherlei
Bedenken Anlaß gab, so glaube ich mit gutem Gewissen annehmen zu dürfen, daß diese
und ähnliche Herde für psychische Erregungen erloschen sind. Der Vergleich mit erkalte-
ter Lava oder erstorbenen Kratern, den bekannten Auswurfsstellen früherer Vulkane,
scheint mir gar nicht so übel, wenn auch vielleicht naheliegend.
394 | Wenn es nicht gar zu unbescheiden ist, auch einmal meinerseits den Standpunkt des
Psychiaters einzunehmen, so möchte ich mich dahin laut werden lassen, daß ich bis jetzt
selbst von den Erzfeinden des Menschengeschlechts, dem Alkohol und dem Tabak, so
ziemlich verschont blieb. Nur ein einziges Mal wurde ich heute mittag von dem erstge-
nannten Dämon attackiert in der Form von Pudding mit Wemsauce. Leider ist es mir aber
erst zu spät eingefallen, daß mich hier »Freund« Alkohol hinterlistig beschleicht, ich
wurde, bevor ich es recht bemerkte, übertölpelt. Die bitterste Reue kam zu spät. Aber von
jetzt ab wird ganz genau aufgepaßt.
Am nächsten Freitag morgen gedenke ich mich wieder in der psychiatrischen Klinik
zur Nachkontrolle meines Geisteszustandes einzufinden. Es wäre mir sehr lieb, wenn ich
Sie zu sehen bekäme oder schriftlich auch einmal etwas von Ihnen zu lesen bekäme. Das
wäre nicht mehr als recht und billig, nachdem ich eine so umfangreiche Krankheitsge-
schichte hab machen helfen. Falls Sie noch in der einen oder anderen Hinsicht Ergänzun-
gen der Explorationen wünschen, stehe ich natürlich gern zu Diensten. Mit freundlichen
Grüßen

Ihr ergebener Josef Mendel.«
 
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