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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0524
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| ÜBER LEIBHAFTIGE BEWUSSTHEITEN
(Bewusstheitstäuschungen),
EIN PSYCHOPATHOLOGISCHES ELEMENTARSYMPTOM3

413

Es gibt Kranke, welche bestimmt fühlen, daß jemand in ihrer Nähe, hinter ihnen, über
ihnen ist, ein Jemand, den sie auf keine Weise sinnlich wahrnehmen, dessen leibhaf-
tige Gegenwart aber von ihnen unmittelbar erlebt ist. Dieses Phänomen ist sowohl von
Trugwahrnehmungen verschieden, weil gar nichts wahrgenommen wird, und es ist auch
von Wahnideen geschieden, weil etwas unmittelbar erlebt wird, das im Urteil sekundär
sowohl als Täuschung erkannt, wie als Realität wahnhaft beurteilt werden kann. Wir
sollen diese und ähnliche Phänomene durch Material belegen, beschreiben und ab-
grenzen. Eine kurze Orientierung in der neueren Psychologie erleichtert uns unsere
Aufgabe.
Auf welche Weise sind uns überhaupt psychologisch Gegenstände gegeben? Wir
können Gegenstände wahrnehmen, vorstellen, phantastisch bilden; in allen diesen
Fällen sind uns Gegenstände anschaulich gegeben. Wir reden von Wahrnehmungen,
Vorstellungen, Phantasiebildern. Es besteht die Tatsache, daß uns außerdem Gegen-
stände unanschaulich gegeben sein können. Diese auf den ersten Blick sehr erstaunli-
che Tatsache ist in früheren Zeiten von Philosophen gelegentlich bemerkt und in der
neueren Psychologie unzweifelbar festgestellt worden'.919 Wenn wir z.B. das Wort
»Glocke« lesen, wissen wir - man kann das besonders beim zusammenhängenden
Lesen leicht konstatieren - von der Bedeutung des Wortes, ohne daß irgendwelche
anschauliche Elemente im Bewußtsein zu sein brauchen. Wir sehen in der Vorstellung
keine Glocke, hören keinen Klang, empfinden kein kaltes Metall, aber wir wissen doch,
was eine Glocke ist. Es ist uns in diesem Fall ein Gegenstand unanschaulich gegeben.
Wir wissen um einen Gegenstand ohne sinnliche Anhaltspunkte. Dieses Wissen von
einem unanschaulich gegebenen Gegenstände nennt Ach Bewußtheit.920 Das häufige
Vorkommen solcher Bewußtheiten konnte er bei allen seinen Versuchspersonen,
indem er ihre Selbstbeobachtung systematisch gestaltete, konstatieren.
Wir vergegenwärtigen uns noch einige Fälle von »Bewußtheiten« aus der Alltags-
erfahrung. Ich habe eben mit einem Freunde gesprochen und sitze jetzt am Schreib-
tisch zu schreiben. Der Freund sitzt mir im Rücken auf der gegenüberliegenden Seite

In der Külpeschen Schule. Vgl. besonders N. Ach, Die Willenstätigkeit und das Denken, Göttin-
gen, 1905.
 
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