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Über leibhaftige Bewußtheiten
»Es gibt Abende, da ich überzeugt bin, daß sich jemand in meinem Zimmer befindet.
Dann bekomme ich infolge der furchtbaren Angst Fieber mit kaltem Schweiß« (S. 252).
In Analogie zu dem normalen Falle der Bewußtheit der Wand im Dunkeln liegt es
nahe, anzunehmen, daß auch bei diesen leibhaftigen Bewußtheiten des pathologi-
schen Seelenlebens ein spärliches, unbemerktes - halluzinatorisches - Empfindungsma-
terial der Anlaß für die Eeibhaftigkeit der Bewußtheit sei. Dafür oder dagegen ist nichts
Entscheidendes zu sagen. Es gibt eben viele Fälle, in denen auch gut beobachtende
Kranke nichts davon bemerken. Es gibt aber auch Fälle, in denen man zunächst eine reine
Bewußtheit anzunehmen geneigt ist, durch genaueres Fragen aber bald von eigentüm-
lichen Hautempfindungen, von Euftzug, von einem Gezogensein nach einer Seite u. dgl.
hört. Wenn wir weiter bedenken, daß bei vielen Illusionen die sinnlichen Anhalts-
punkte gering sind, daß die leibhaftige illusorische Wahrnehmung vielmehr überwäl-
tigend leibhaftige Bewußtheit mit spärlicher sinnlicher Repräsentation ist, so werden
wir uns hüten, zwischen leibhaftigen Bewußtheiten und Illusionen einen prinzipiel-
len, unüberbrückbaren Gegensatz zu statuieren. Leibhaftige Trugwahrnehmungen und
leibhaftige Bewußtheiten werden uns eher als die Endpunkte einer langen Reihe von Über-
gängen erscheinen: bei den ausgesprochenen Trugwahrnehmungen ist alles Gegen-
ständliche, soweit überhaupt möglich, auch sinnlich repräsentiert, bei der reinen leib-
418 haftigen Bewußtheit ist alles Sinnlich-]Anschauliche fortgefallen. Die möglichen
Übergänge hindern nicht, daß wir neben den Sinnestäuschungen von Bewußtheitstäu-
schungen reden. Die damit bezeichneten Phänomene, die bisher nirgends Unterkunft
fanden, sind doch so mit einem kurzen Namen benannt und in ihrer Eigenart zusam-
mengefaßt.
Ganz analog den Sinnestäuschungen, die bei aller Leibhaftigkeit sowohl als real
wie als unwirklich von Kranken beurteilt werden können, verhalten sich die Bewußt-
heitstäuschungen zum Urteil. Der Kranke Kr. hat die ihm in leibhaftiger Bewußtheit
links hinter sich gegenwärtige Gestalt nie für wirklich vorhanden gehalten. Die Kranke S.
urteilte auf Grund der leibhaftigen Bewußtheit, es sei jemand im Zimmer: »es ist wirk-
lich so«.
Die phänomenologische Stellung der Bewußtheitstäuschungen zu den Sinnestäu-
schungen dürfte hiermit einigermaßen deutlich geworden sein. Wir haben jetzt noch
ihre Stellung zu den Wahnvorgängen zu beschreiben. Hier machen die meisten
Schwierigkeiten gewisse Phänomene, die ebensowenig wie die leibhaftigen Bewußt-
heitstäuschungen bisher einen bezeichnenden Namen besitzen. Eine Kranke erklärte,
sie fühle, daß sie verfolgt und verleumdet werde. »Ich möchte so gern anders denken,
aber ich muß denken, wie ich denke, es sind doch Fakta. Ich fühle (greift beteuernd an
ihre Brust), daß es so ist«. - Eine Kranke Sandbergs934 bat in der ersten Zeit ihrer
Erkrankung ihren Mann fortwährend: »sag mirs doch«. Auf die Frage, was er ihr denn
sagen sollte, antwortete sie stets: »ja ich weiß es ja nicht, oberes ist doch etwas«.
Über leibhaftige Bewußtheiten
»Es gibt Abende, da ich überzeugt bin, daß sich jemand in meinem Zimmer befindet.
Dann bekomme ich infolge der furchtbaren Angst Fieber mit kaltem Schweiß« (S. 252).
In Analogie zu dem normalen Falle der Bewußtheit der Wand im Dunkeln liegt es
nahe, anzunehmen, daß auch bei diesen leibhaftigen Bewußtheiten des pathologi-
schen Seelenlebens ein spärliches, unbemerktes - halluzinatorisches - Empfindungsma-
terial der Anlaß für die Eeibhaftigkeit der Bewußtheit sei. Dafür oder dagegen ist nichts
Entscheidendes zu sagen. Es gibt eben viele Fälle, in denen auch gut beobachtende
Kranke nichts davon bemerken. Es gibt aber auch Fälle, in denen man zunächst eine reine
Bewußtheit anzunehmen geneigt ist, durch genaueres Fragen aber bald von eigentüm-
lichen Hautempfindungen, von Euftzug, von einem Gezogensein nach einer Seite u. dgl.
hört. Wenn wir weiter bedenken, daß bei vielen Illusionen die sinnlichen Anhalts-
punkte gering sind, daß die leibhaftige illusorische Wahrnehmung vielmehr überwäl-
tigend leibhaftige Bewußtheit mit spärlicher sinnlicher Repräsentation ist, so werden
wir uns hüten, zwischen leibhaftigen Bewußtheiten und Illusionen einen prinzipiel-
len, unüberbrückbaren Gegensatz zu statuieren. Leibhaftige Trugwahrnehmungen und
leibhaftige Bewußtheiten werden uns eher als die Endpunkte einer langen Reihe von Über-
gängen erscheinen: bei den ausgesprochenen Trugwahrnehmungen ist alles Gegen-
ständliche, soweit überhaupt möglich, auch sinnlich repräsentiert, bei der reinen leib-
418 haftigen Bewußtheit ist alles Sinnlich-]Anschauliche fortgefallen. Die möglichen
Übergänge hindern nicht, daß wir neben den Sinnestäuschungen von Bewußtheitstäu-
schungen reden. Die damit bezeichneten Phänomene, die bisher nirgends Unterkunft
fanden, sind doch so mit einem kurzen Namen benannt und in ihrer Eigenart zusam-
mengefaßt.
Ganz analog den Sinnestäuschungen, die bei aller Leibhaftigkeit sowohl als real
wie als unwirklich von Kranken beurteilt werden können, verhalten sich die Bewußt-
heitstäuschungen zum Urteil. Der Kranke Kr. hat die ihm in leibhaftiger Bewußtheit
links hinter sich gegenwärtige Gestalt nie für wirklich vorhanden gehalten. Die Kranke S.
urteilte auf Grund der leibhaftigen Bewußtheit, es sei jemand im Zimmer: »es ist wirk-
lich so«.
Die phänomenologische Stellung der Bewußtheitstäuschungen zu den Sinnestäu-
schungen dürfte hiermit einigermaßen deutlich geworden sein. Wir haben jetzt noch
ihre Stellung zu den Wahnvorgängen zu beschreiben. Hier machen die meisten
Schwierigkeiten gewisse Phänomene, die ebensowenig wie die leibhaftigen Bewußt-
heitstäuschungen bisher einen bezeichnenden Namen besitzen. Eine Kranke erklärte,
sie fühle, daß sie verfolgt und verleumdet werde. »Ich möchte so gern anders denken,
aber ich muß denken, wie ich denke, es sind doch Fakta. Ich fühle (greift beteuernd an
ihre Brust), daß es so ist«. - Eine Kranke Sandbergs934 bat in der ersten Zeit ihrer
Erkrankung ihren Mann fortwährend: »sag mirs doch«. Auf die Frage, was er ihr denn
sagen sollte, antwortete sie stets: »ja ich weiß es ja nicht, oberes ist doch etwas«.