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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0583
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540

Stellenkommentar

Ohren und mit meinem Leibe seit beinahe 20 Jahren gemacht wurden! [...] Ein und dasselbe
Wort ertönte oft ohne alle Unterbrechung 2-3 Stunden lang! Man hörte dann auch lang fort-
gesetzte Reden über mich mehrentheils schimpflichen Inhalts, wobei oft die Stimme mir
wohlbekannter Personen nachgeahmt wurde: die Vorträge enthielten aber stets wenig Wahr-
heit und mehrenteils die allerschändlichsten Lügen und Verleumdungen meiner Person und
oft auch Anderer. Oft wurde dazu promulgirt, dass ich es sei, der dies Alles sage [...] Die Schur-
ken wollten dabei auch noch Kurzweil machen, bedienten sich bei ihren Bekanntmachungen
und Nachrichten der Onomatopoeie, der Paranomasie und anderer Redefiguren, und stel-
len ein redendes perpetuum mobile dar. Diese unablässig fortwährenden Töne werden oft
nur in der Nähe, oft aber eine halbe, ja eine ganze Stunde weit gehört. Sie werden aus mei-
nem Körper gleichsam abgeschnellt und abgeschossen und das mannigfachste Geräusch und
Getöse wird herumgeschleudert, besonders wenn ich in ein Haus trete oder in ein Dorf oder
in eine Stadt komme, daher ich seit mehreren Jahren beinahe wie ein Einsiedler lebe. Dabei
klingen mir die Ohren fast unaufhörlich und oft so stark, daß es ziemlich weit hörbar ist [...].
Insonderheit wird in den Wäldern und Gesträuchen, hauptsächlich bei windigem und stür-
mischem Wetter, ein oft entsetzlicher dämonisch-scheinender Spuk erregt, auch jeder ein-
zeln stehende Baum wird bei meiner Annäherung, selbst bei stillem Wetter, zu einigem Rau-
schen und Ertönenlassen von Worten und Redensarten gebracht. Ein Gleiches geschieht
mit dem Gewässer, wie denn überhaupt alle Elemente zu meiner Pein angewendet werden!!«.
772 Bei dem Kranken handelt es sich um den Juristen und Schriftsteller Daniel Paul Schreber
(1842-1911). Nach einem neunjährigen Aufenthalt in der von Paul Flechsig geleiteten psy-
chiatrischen Anstalt Sonnenschein, in die er wegen einer Dementia paranoides eingewiesen
wurde, beschloss Schreber - der sich für gesund hielt -, seine Erlebnisse niederzuschreiben
(vgl. D. P. Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, nebst Nachträgen und einem Anhang
über die Frage: »Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen
ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?«, Leipzig 1903). Schrebers auto-
biographische Selbstschilderungen wurden u.a. von Sigmund Freud einer eingehenden Ana-
lyse unterzogen (vgl. S. Freud: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiogra-
phisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)«, in: Jahrbuch für
psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 3 (1912) 9-68). Es ist unklar, warum hier
Jaspers Schreber anonymisiert und nicht auf das Buch verweist, während er ihn an anderer
Stelle namentlich zitiert (in diesem Band, S. 374, Anm.).
773 Ein Zitat aus Schreber: Denkwürdigkeiten, 236. Bei Schreber lautet es leicht abweichend: »Als
einer nicht unwichtigen Begleiterscheinung des Gedankenzwanges habe ich endlich noch
des Umstandes zu gedenken, daß alle Geräusche, die ich vernehme, namentlich solche von
einer gewissen längeren Dauer, wie das Rasseln der Eisenbahnzüge, das Schnurren der Ket-
tendampfer, die Musik etwaiger Konzerte usw., die von den Stimmen in meinen Kopf hin-
eingesprochenen Worte, sowie diejenigen Worte, in die ich meine Gedanken selbständig
mit entsprechender Nervenschwingung formuliere, zu sprechen scheinen./ Es handelt sich
hier, im Gegensatz zu der Sprache der Sonne und der gewunderten Vögel, natürlich nur um
ein subjektives Gefühl: der Klang der gesprochenen oder von mir entwickelten Worte teilt
sich eben von selbst den von mir gleichzeitig empfangenen Gehörseindrücken der Eisen-
bahn, Kettendampfer, knarrenden Stiefel usw. mit; es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß
die Eisenbahnen, Kettendampfer usw. wirklich sprechen, wie dies bei der Sonne und den
Vögeln der Fall ist«.
 
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