Einleitung des Herausgebers
XIII
sende ein grosser kontinuierlicher Zusammenhang. Vorsokratiker bis Hegel. Eine sys-
tematische Begrifflichkeit, eine Tradition. Ein Handwerk, in Schulen zu Form, Leben
und Übung gebracht. Eine Welt, die zugleich Leben war. Die immer neue Aneignung
und Verwandlung des von den Griechen geschaffenen Grundbestands: der eigenstän-
dige, im Denken sich des Seins und seiner selbst vergewissernde Mensch. // Vor 100
Jahren der grosse Bruch. (Vorwurf gegen Kant (vor allem von kath. Seite), dass er al-
les zerstört habe). Seitdem Entleerungsprocess, wissenschaftliche Philosophie: Man-
nigfaltige, willkürliche und künstliche Erneuerungen. [...] // In dem Augenblick des
Endes und der grossartigen, die Fülle des Gehalts noch gegenständlich sagenden Ver-
wässerung der Philosophie schreibt und veröffentlicht Kierkegaard [...] Grundbegriff:
Existenz, die Wirklichkeit des Menschseins; und die Wahrheit, mit der und als die ich
leben kann. // Später Nietzsche. // Aus anderem Ursprung: Marx, Max Weber.«41 Der
nach-kantische »Entleerungsprozess«, für den der Anachronismus »wissenschaftlicher«
Philosophie symptomatisch ist, ergibt sich aus einer Entwicklung, deren Konsequen-
zen Kierkegaard und Nietzsche als erste realisieren: die Entdifferenzierung von Philosophie
und Wissenschaft. Mit der Emanzipation (vor allem) der neuzeitlichen Naturwissen-
schaft - »das vielleicht größte weltgeschichtliche Ereignis seit der schöpferischen Ach-
senzeit um 500 v. Chr.«42 - verändert sich der herkömmliche Wissenschaftsanspruch
der Philosophie nicht nur, sondern verliert seine Plausibilität. Das ist kein negatives Re-
sultat. Indem er Wissen durch verallgemeinerungsfähige Verfahren der Überprüfung
und durch fortschreitenden Konsens definiert, beseitigt der moderne Wissenschafts-
begriff eine Zweideutigkeit, die im metaphysischen Erbe noch steckt: die Unterstel-
lung, dass es außerhalb und unabhängig davon, wie wir leben, objektivierbare Gründe
für den Wahrheitsanspruch philosophischer Aussagen gäbe. Die »naive Einheit von
Philosophie und Wissenschaft«, »einst eine unvergleichlich eindringliche, in ihrer
geistigen Situation wahre Chiffre«, ist daher für Jaspers »jetzt nur noch als ein trübes
Vermischtsein möglich«. Sie muss »radikal überwunden werden.«43 Zwar kann man
weiterhin von philosophischer »Erkenntnis« oder, wie Jaspers selbst es tut, von philo-
sophischem >(Grund-)Wissen< sprechen. Aber dieses Wissen ist weder verallgemeine-
rungsfähig noch verifizierbar. Es ist auf eine Weise »privat«, dass es sich nur im persön-
lichen Leben bewährt und nur durch das Leben, das wir führen, identifizierbar bleibt.
Erst damit wird die Metaphysik zur Existenzphilosophie, nicht im Sinne eines Paradig-
menwechsels, im Sinne vielmehr einer Hermeneutik des Philosophierens, die das me-
taphysische Erbe so konserviert, dass die nunmehr auf den Einzelnen zugeschnittene
»Bewährungstheorie der Wahrheit« (F. Rosenzweig) die Metaphysik nicht ersetzt, son-
41 »Sommer 1931. Vorlesung: Existenzphilosophie«, S. I.
42 Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, 24.
43 S. 109.
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sende ein grosser kontinuierlicher Zusammenhang. Vorsokratiker bis Hegel. Eine sys-
tematische Begrifflichkeit, eine Tradition. Ein Handwerk, in Schulen zu Form, Leben
und Übung gebracht. Eine Welt, die zugleich Leben war. Die immer neue Aneignung
und Verwandlung des von den Griechen geschaffenen Grundbestands: der eigenstän-
dige, im Denken sich des Seins und seiner selbst vergewissernde Mensch. // Vor 100
Jahren der grosse Bruch. (Vorwurf gegen Kant (vor allem von kath. Seite), dass er al-
les zerstört habe). Seitdem Entleerungsprocess, wissenschaftliche Philosophie: Man-
nigfaltige, willkürliche und künstliche Erneuerungen. [...] // In dem Augenblick des
Endes und der grossartigen, die Fülle des Gehalts noch gegenständlich sagenden Ver-
wässerung der Philosophie schreibt und veröffentlicht Kierkegaard [...] Grundbegriff:
Existenz, die Wirklichkeit des Menschseins; und die Wahrheit, mit der und als die ich
leben kann. // Später Nietzsche. // Aus anderem Ursprung: Marx, Max Weber.«41 Der
nach-kantische »Entleerungsprozess«, für den der Anachronismus »wissenschaftlicher«
Philosophie symptomatisch ist, ergibt sich aus einer Entwicklung, deren Konsequen-
zen Kierkegaard und Nietzsche als erste realisieren: die Entdifferenzierung von Philosophie
und Wissenschaft. Mit der Emanzipation (vor allem) der neuzeitlichen Naturwissen-
schaft - »das vielleicht größte weltgeschichtliche Ereignis seit der schöpferischen Ach-
senzeit um 500 v. Chr.«42 - verändert sich der herkömmliche Wissenschaftsanspruch
der Philosophie nicht nur, sondern verliert seine Plausibilität. Das ist kein negatives Re-
sultat. Indem er Wissen durch verallgemeinerungsfähige Verfahren der Überprüfung
und durch fortschreitenden Konsens definiert, beseitigt der moderne Wissenschafts-
begriff eine Zweideutigkeit, die im metaphysischen Erbe noch steckt: die Unterstel-
lung, dass es außerhalb und unabhängig davon, wie wir leben, objektivierbare Gründe
für den Wahrheitsanspruch philosophischer Aussagen gäbe. Die »naive Einheit von
Philosophie und Wissenschaft«, »einst eine unvergleichlich eindringliche, in ihrer
geistigen Situation wahre Chiffre«, ist daher für Jaspers »jetzt nur noch als ein trübes
Vermischtsein möglich«. Sie muss »radikal überwunden werden.«43 Zwar kann man
weiterhin von philosophischer »Erkenntnis« oder, wie Jaspers selbst es tut, von philo-
sophischem >(Grund-)Wissen< sprechen. Aber dieses Wissen ist weder verallgemeine-
rungsfähig noch verifizierbar. Es ist auf eine Weise »privat«, dass es sich nur im persön-
lichen Leben bewährt und nur durch das Leben, das wir führen, identifizierbar bleibt.
Erst damit wird die Metaphysik zur Existenzphilosophie, nicht im Sinne eines Paradig-
menwechsels, im Sinne vielmehr einer Hermeneutik des Philosophierens, die das me-
taphysische Erbe so konserviert, dass die nunmehr auf den Einzelnen zugeschnittene
»Bewährungstheorie der Wahrheit« (F. Rosenzweig) die Metaphysik nicht ersetzt, son-
41 »Sommer 1931. Vorlesung: Existenzphilosophie«, S. I.
42 Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit, 24.
43 S. 109.