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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0022
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Einleitung des Herausgebers

XXI

der »Ausnahme« verpflichtet blieb.8° Hitler-Deutschland sei »ein Zuchthaus« gewesen,
erinnert sich Jaspers später - ein Gefängnis, das Leiden und Schuld produzierte und
reproduzierte, auch die »Schuld der Eingesperrten«81, aus dem es aber kein Entkom-
men gab. Durch die Alltäglichkeit des Terrors hatten Schlüsselbegriffe der Existenzer-
hellung - »Kommunikation«, »Liebe«, »Solidarität« - ihr Widerlager im Dasein ver-
loren oder waren auf symptomatische Weise zweideutig geworden, wie »Autorität«,
»Adel« oder »Führertum«.
Man hat immer wieder betont (und völlig zu Recht), dass Jaspers aus diesen Er-
fahrungen politische Konsequenzen gezogen hat, die im schriftstellerischen Engage-
ment für Freiheitsrechte und Demokratie weit über den Fokus der Existenzerhellung
hinausgingen. Der Wende zum Politischen vorgelagert, sie systematisch erst begrün-
dend, ist jedoch die Erweiterung der Daseinsanalyse zu einer Philosophie des Umgrei-
fenden. In ihr kommt als wichtigste Konsequenz aus der Zeit des Unheils zum Tragen,
dass der Appell an Existenz, Selbstsein und Entscheidung nur sinnvoll ist im Blick auf
ein Dasein, das sich überhaupt als Spielraum möglicher Existenz denken lässt: Aus die-
ser Perspektive entwickelt Jaspers in den 1930er und 1940er Jahren eine Periechontolo-
gie, die nicht nur den Begriff des Daseins ausbuchstabiert in ein Ensemble kommuni-
kativ geteilter Lebenswelten, sondern die Bedingungen thematisiert, unter denen die
verschiedenen Welten, ohne ihre Eigenbedeutsamkeit zu verlieren, existenzermögli-
chend Zusammenwirken.
Die Periechontologie blieb ein Mammutprojekt, aufgestockt zudem, ab 1937, um
den nicht weniger ambitionierten Plan einer »Weltphilosophie«. Dem ersten Teil-
stück dieses Projekts - Von der Wahrheit - ist der Nukleus von Vernunft und Existenz und
Existenzphilosophie entnommen: die zweite und dritte Groninger Vorlesung, die erste
und zweite Frankfurter Vorlesung. Sie stellen nicht Vorstufen dar, sondern den letz-
ten Stand, an dem Jaspers, wie Synopsen zeigen könnten, wenig geändert hat. Den
Kern ergänzen jeweils Texte, die speziell für den Vortragsanlass geschrieben sind - für
Groningen: die (als öffentlicher Abendvortrag gehaltene) erste Vorlesung über Kier-
kegaard und Nietzsche, die vierte und fünfte Vorlesung, für Frankfurt: die Einleitung
und die dritte Vorlesung. Insofern sind beide Vorlesungsserien »Hybride«. Ob sie un-
ter anderen Vorzeichen in der Form, in der sie heute vorliegen, publiziert worden wä-
ren, ist zweifelhaft. Vermutlich hätte Jaspers ohne Not nichts aus der Philosophischen
Logik vorab veröffentlicht, ebenso wenig wie in den 1920er Jahren Textstücke aus der
Philosophie. Er hätte sich, wie früher, Zeit gelassen.

80 Vgl. H. Arendt: Was ist Existenz-Philosophie?, Frankfurt a.M. 1990 [dt.], 24: »In der Ausnahme rea-
lisiert der Mensch als Einzelner die allgemeinen Strukturen des Daseins überhaupt. Es ist charak-
teristisch für die gesamte Existenzphilosophie, daß sie unter >existentiell< im Grunde das versteht,
was Kierkegaard in der Kategorie der Ausnahme dargestellt hat.«

81 »Die Schuldfrage«, 115.
 
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