Einleitung des Herausgebers
XLIII
»Absage an allen »Irrationalismus«« ist der Tenor auch bei Dolf Sternberger: »Neu er-
scheint gegenüber früheren Publikationen von Jaspers der verstärkte Akzent, den »Ver-
nunft« hier trägt.« Und auch Sternberger zitiert die Metapher der Vernunft als »Band«
der Weisen des Umgreifenden, nur besteht für Sternberger die Funktion der Vernunft
darin, dass sie »alle Bereiche, in denen der Mensch befangen ist, einigt, indem diese
gerade relativiert und in ihrer Maskenhaftigkeit erkannt werden.« Hinter den Masken
aber werde nichts Anderes sichtbar als die auf sich gestellte Existenz - die Kommuni-
kationsverhältnisse, auf die Jaspers dringt, die Verankerung der Existenz im Umgrei-
fenden des Daseins, des Bewusstseins, des Geistes, ignoriert Sternberger. Unter der
einseitigen Interpretation der Vernunft als Entlarvung wiederholt sich deshalb für
Sternberger in Vernunft und Existenz unfreiwillig die Paradoxie des Irrationalismus, »das
Gefühl oder die Seele, das Leben selbst oder den Mythos zitieren zu wollen und sich
dabei eben doch in lauter Reflexionsbegriffen zu bewegen«: »Existenz ist nicht wiß-
bar, der »Grund des Seins« wird nur dadurch berührt, »daß ich ihn im Ergreifen nicht
nenne« [...]. Auf solchem schmalen Grat zwischen Reden und Schweigen sich in steter
Unruhe zu halten, soll die Aufgabe der existentiellen Haltung sein, will sie die »Trans-
zendenz« nicht verscheuchen. [...] Weltlos, naturlos und geschichtslos zeigt sich diese
nackte, aus allen psychologischen Bindungen und Bedingungen noch abdestillierte
spirituelle »Existenz«, umgeben von den aufgehäuften wesenlosen Larven »objektiver
Wißbarkeiten«, zu welchen ihr alle Realität abgestorben ist. Ist dieses Wesen überhaupt
der Erfahrungen noch fähig, zu welchen es aufgefordert wird?«159
Quer zu allen Reaktionen, die Jaspers' (Wieder-)Entdeckung der Vernunft ho-
norieren, steht Leo Schestows »Sine effusione sanguinis«, eine Generalabrechnung
mit dem Vernunftdogmatismus der europäischen Tradition, den Jaspers gegen
Kierkegaard und Nietzsche nur erneure.16° Schestows Kritik faszinierte und provo-
159 D. Sternberger: »Erstarrte Unruhe«, Frankfurter Zeitung, 29. September 1935, wieder in: Gang
zwischen Meistern, 111-113, vgl. auch: D. Sternberger, W. Schmiele: »Erstarrte Unruhe. Eine
Diskussion«, Frankfurter Zeitung, 1. Dezember 1935. Sternberger hat seine scharfe Kritik später zu-
rückgenommen, vgl. die Mitteilung an und in: G. Hofmann: Politik und Ethos bei Karl Jaspers, Phil.
Diss. Heidelberg 1969,123, Anm. 19.
160 L. Schestow: »Sine effusione sanguinis. Sur la probite philosophique« Hermes (1938/1) 5-36, dt. in:
Spekulation und Offenbarung. Essays und kritische Betrachtungen, Hamburg und München 1963,
265-311, hier: 273t.: »Ob wir nun Aristoteles, Kant, Mendelssohn oder Jaspers selber sprechen hö-
ren, stoßen wir jedesmal auf derartige endgültige und unerbittliche Urteile, welche bezeugen, daß
unsere »Vernunft« - möge sie nun so oder als »Verstand« bezeichnet werden - sich bei weitem nicht
auf die ungeheure Aufgabe beschränkt, das, was vor ihr oder ohne sie erschaffen und ins Dasein
gerufen worden ist, zu erhellen und durchsichtig zu machen. Sie trachtet nach mehr, nach weit
mehr. [...] Was sie als Helligkeit anbietet, ist gar keine Helligkeit. Die Vernunft erhellt nicht, son-
dern urteilt. Jene »Unerbittlichkeiten« und »Unmöglichkeiten«, von denen Jaspers spricht, ent-
springen nicht aus dem »Faktum«, sondern aus der Vernunft. Kant hat dies nie geleugnet: laut Kant
ist die Vernunft die Quelle, und zwar die einzige Quelle der synthetischen Urteile a priori [...] und
XLIII
»Absage an allen »Irrationalismus«« ist der Tenor auch bei Dolf Sternberger: »Neu er-
scheint gegenüber früheren Publikationen von Jaspers der verstärkte Akzent, den »Ver-
nunft« hier trägt.« Und auch Sternberger zitiert die Metapher der Vernunft als »Band«
der Weisen des Umgreifenden, nur besteht für Sternberger die Funktion der Vernunft
darin, dass sie »alle Bereiche, in denen der Mensch befangen ist, einigt, indem diese
gerade relativiert und in ihrer Maskenhaftigkeit erkannt werden.« Hinter den Masken
aber werde nichts Anderes sichtbar als die auf sich gestellte Existenz - die Kommuni-
kationsverhältnisse, auf die Jaspers dringt, die Verankerung der Existenz im Umgrei-
fenden des Daseins, des Bewusstseins, des Geistes, ignoriert Sternberger. Unter der
einseitigen Interpretation der Vernunft als Entlarvung wiederholt sich deshalb für
Sternberger in Vernunft und Existenz unfreiwillig die Paradoxie des Irrationalismus, »das
Gefühl oder die Seele, das Leben selbst oder den Mythos zitieren zu wollen und sich
dabei eben doch in lauter Reflexionsbegriffen zu bewegen«: »Existenz ist nicht wiß-
bar, der »Grund des Seins« wird nur dadurch berührt, »daß ich ihn im Ergreifen nicht
nenne« [...]. Auf solchem schmalen Grat zwischen Reden und Schweigen sich in steter
Unruhe zu halten, soll die Aufgabe der existentiellen Haltung sein, will sie die »Trans-
zendenz« nicht verscheuchen. [...] Weltlos, naturlos und geschichtslos zeigt sich diese
nackte, aus allen psychologischen Bindungen und Bedingungen noch abdestillierte
spirituelle »Existenz«, umgeben von den aufgehäuften wesenlosen Larven »objektiver
Wißbarkeiten«, zu welchen ihr alle Realität abgestorben ist. Ist dieses Wesen überhaupt
der Erfahrungen noch fähig, zu welchen es aufgefordert wird?«159
Quer zu allen Reaktionen, die Jaspers' (Wieder-)Entdeckung der Vernunft ho-
norieren, steht Leo Schestows »Sine effusione sanguinis«, eine Generalabrechnung
mit dem Vernunftdogmatismus der europäischen Tradition, den Jaspers gegen
Kierkegaard und Nietzsche nur erneure.16° Schestows Kritik faszinierte und provo-
159 D. Sternberger: »Erstarrte Unruhe«, Frankfurter Zeitung, 29. September 1935, wieder in: Gang
zwischen Meistern, 111-113, vgl. auch: D. Sternberger, W. Schmiele: »Erstarrte Unruhe. Eine
Diskussion«, Frankfurter Zeitung, 1. Dezember 1935. Sternberger hat seine scharfe Kritik später zu-
rückgenommen, vgl. die Mitteilung an und in: G. Hofmann: Politik und Ethos bei Karl Jaspers, Phil.
Diss. Heidelberg 1969,123, Anm. 19.
160 L. Schestow: »Sine effusione sanguinis. Sur la probite philosophique« Hermes (1938/1) 5-36, dt. in:
Spekulation und Offenbarung. Essays und kritische Betrachtungen, Hamburg und München 1963,
265-311, hier: 273t.: »Ob wir nun Aristoteles, Kant, Mendelssohn oder Jaspers selber sprechen hö-
ren, stoßen wir jedesmal auf derartige endgültige und unerbittliche Urteile, welche bezeugen, daß
unsere »Vernunft« - möge sie nun so oder als »Verstand« bezeichnet werden - sich bei weitem nicht
auf die ungeheure Aufgabe beschränkt, das, was vor ihr oder ohne sie erschaffen und ins Dasein
gerufen worden ist, zu erhellen und durchsichtig zu machen. Sie trachtet nach mehr, nach weit
mehr. [...] Was sie als Helligkeit anbietet, ist gar keine Helligkeit. Die Vernunft erhellt nicht, son-
dern urteilt. Jene »Unerbittlichkeiten« und »Unmöglichkeiten«, von denen Jaspers spricht, ent-
springen nicht aus dem »Faktum«, sondern aus der Vernunft. Kant hat dies nie geleugnet: laut Kant
ist die Vernunft die Quelle, und zwar die einzige Quelle der synthetischen Urteile a priori [...] und