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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0072
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Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

II

gels scheiterndem Versuch, Vernunft in die Entwicklung zu bringen, gotische Him-
melsstürmerei? 26 Der Wille zum System ist ihm ein Mangel an Rechtschaffenheit." 27
Was nun aber eigentlich Wissen sei, wird von beiden auf dieselbe Weise ausgespro-
chen. Es ist ihnen nichts als Auslegung. Sie verstehen auch ihr eigenes Denken als Aus-
legen.
Die Auslegung aber findet kein Ende. Das Dasein ist für Nietzsche unendlicher Aus-
legungen fähig. Was geschehen und getan ist, ist für Kierkegaard immer noch einem
neuen Verstehen zugänglich: wie es ausgelegt wird, wird es eine neue Wirklichkeit, die
noch verborgen war; das Leben in der Zeitlichkeit kann daher dem Menschen niemals
recht verständlich werden, kein Mensch kann absolut sein Bewußtsein durchdringen.28
Beide verwenden das Gleichnis der Auslegung für das Wissen vom Sein aber auch
so, als ob das Sein im Auslegen des Auslegens entziffert würde. Nietzsche will den
Grundtext homo natura von Übermalungen befreien und in seiner Wirklichkeit le-
sen?" 29 Kierkegaard gibt seinen Schriften keine andere Bedeutung, als daß sie die Ur-
schriften30 der individuellen, humanen Existenzverhältnisse wieder lesen wollen.iv 31
Mit diesem Grundgedanken hängt es zusammen, daß beide - die offensten und un-
bekümmertsten Denker - für Verborgenheit und Maske eine verführende Bereitschaft ♦
haben. Maske gehört ihnen notwendig zum Wahrsein. Indirekte Mitteilung wird ihnen
die einzige Form der Mitteilung eigentlicher Wahrheit; und indirekte Mitteilung ge-
hört als Ausdruck zur Unentschiedenheit dieser Wahrheit im Zeitdasein, in dem sie
im Werden aus dem Ursprung jeder Existenz noch ergriffen werden muß.32
| Beide stoßen zwar in ihren Gedankengängen auf den Grund, der im Menschen 17
das Sein selbst wäre: Kierkegaard stellt gegen die Philosophie, die von Parmenides über
Descartes bis Hegel sagt: Das Denken ist das Sein, den Satz: Wie du glaubst, so bist du,
das Glauben ist das Sein.v 33 Nietzsche erblickt den Willen zur Macht.34 Aber Glaube wie
Wille zur Macht sind bloße signa,35 ihrerseits nicht geradezu zeigend, was gemeint ist,
sondern selbst wieder einer grenzenlosen Ausdeutung fähig.
Beiden ist dabei der entscheidende Antrieb die Redlichkeit. Dieses Wort ist ihnen
gemeinsam der Ausdruck der letzten Tugend, der sie sich unterwerfen. Sie bleibt ihnen
das Minimum an Unbedingtheit, die im verwirrenden Fraglichwerden aller Gehalte
noch möglich ist. Aber sie wird ihnen auch die schwindelerregende Forderung einer
sich selbst noch in Frage stellenden Wahrhaftigkeit, die das Gegenteil ist von der bil-
ligen Gewaltsamkeit, die das Wahre eindeutig in barbarischer Fraglosigkeit zu besitzen
meint.36

i 13,89.

ii 8,64.

iii 7, 190.

iv VII, 304.

v VIII, 91.
 
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