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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0074
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Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

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Man hat dieses Zeitalter wirtschaftlich, technisch, historisch-politisch, soziolo-
gisch verstehen wollen. Kierkegaard | und Nietzsche dagegen meinen einen gleichsam 19
substantiellen Vorgang im Wesen des Menschen selbst wahrzunehmen.
Kierkegaard sieht die gesamte Christenheit, wie sie heute wirklich ist, als eine unge-
heure Täuschung, in der Gott zum Narren gehalten werde. Dieses Christentum habe
nichts zu tun mit dem Christentum des Neuen Testaments. Es gibt nur zwei Wege: ent-
weder durch Kunstgriffe die Täuschung aufrechterhalten und den Zustand verdecken
- dann wird alles zu nichts; oder redlich die Jämmerlichkeit eingestehen, daß gegen-
wärtig in Wahrheit kein einziges Individuum mehr geboren wird, das zu einem Chris-
ten im Sinne des Neuen Testaments taugte, daß niemand von uns dazu taugt, sondern
eine fromme Abschwächung des Christentums lebt; bei diesem Eingeständnis wird
sich zeigen, ob in dieser Redlichkeit etwas Wahres ist, ob das den Beifall der Vorsehung
hat; wo nicht, so muß wiederum alles brechen, damit in diesem Schrecknis wieder In-
dividuen entstehen, die das Christentum des Neuen Testaments tragen können? 41
Nietzsche faßt den geschichtlichen Tatbestand der Zeit in das eine Wort: Gott ist
tot.42
Beiden gemeinsam ist also eine geschichtliche Aussage über die Zeit in ihrem sub-
stantiellen Grunde. Sie erblicken das Nichts als bevorstehend, beide noch mit dem Wis-
sen um die Substanz des Verlorenen, beide mit der Haltung: nicht das Nichts zu wollen.
Wenn Kierkegaard die Wahrheit oder die Möglichkeit der Wahrheit des Christentums
voraussetzt, Nietzsche dagegen die Gottlosigkeit nicht nur als Verlust feststellt, son-
dern gerade als die größte Chance ergreift, so ist ihnen doch gemeinsam der Wille zur
Substanz des Seins, zu Rang und Wert des Menschen. Sie machen keine politischen Re-
formprogramme, überhaupt keine Programme, richten sich nicht auf etwas Einzelnes,
sondern wollen durch ihr Denken bewirken, daß etwas ge|schehe, was sie in keiner Be- 20
stimmtheit voraussehen. Für Nietzsche ist diese Unbestimmtheit seine »große Politik«
auf lange Sicht,43 für Kierkegaard das Christwerden in neuer Gestalt der Gleichgültig-
keit allen Weltseins. Beide sind angesichts des Zeitalters ergriffen von dem Gedanken:
was aus dem Menschen wird. -
Sie sind selbst die Modernität in einer sich überschlagenden Gestalt; sie haben sich
scheiternd überwunden, weil sie sie bis zum Ende durchgelebt haben. Wie aber beide
das Zeitalter in seiner Not nicht passiv, sondern selbsttuend erfahren dadurch, daß sie
ganz tun, was die meisten nur halb mit sich geschehen lassen, das sehen wir erstens
an ihrer grenzenlosen Reflexion, dann im Gegenstoß dazu als ihr Drängen an die Ur- ♦
sprünge, und schließlich in der Weise, wie sie ins Bodenlose sinkend den Halt in der
Transzendenz ergreifen. -

i Chr. 132-140, (Kierkegaards Angriff auf die Christenheit. Agitatorische Schriften und Aufsätze
1851-1855. Stuttgart 1896).
 
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