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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0076
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Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

15

Damit aber diese Freiheit nicht in leerer Reflexion zu Nichts wird, sondern sich er-
füllt, muß die unendliche Reflexion »stranden«.1 49 Dann erst geht sie von Etwas aus
oder erschöpft sich selbst in der Entscheidung von Entschluß und Glauben. So unwahr
das willkürliche und gewaltsame | Anhalten der Reflexion ist, so wahr der Grund, aus 22
dem sie selbst beherrscht wird durch ein der Existenz Entgegenkommendes, worin
diese sich erst geschenkt wird, so daß sie der unendlichen Reflexion, indem sie sich ihr
ganz überliefert, auch ganz Herr ist.
Die Reflexion, die ebenso zum Nichts zersetzen, wie Bedingung der Existenz wer-
den kann, ist von Kierkegaard und Nietzsche als solche übereinstimmend bezeichnet.
Aus ihr haben sie ihr in den Werken mitgeteiltes Denken in einem fast unübersehba-
ren Reichtum vollzogen. Dieses Denken ist daher seinem Sinn nach Möglichkeit: das
»Stranden« kann darin angezeigt und ermöglicht, aber nicht schon getan werden.
So sind beide in ihrem Denken sich ihres Wissens auch um die Möglichkeiten des
Menschen bewußt, dessen, was sie nicht selbst schon sind, wenn sie es denken. Be-
wußt in der Möglichkeit wissen - ein Analogon des Dichtens50 - ist nicht unwahr, son-
dern erweckende und infragestellende Reflexion. Möglichkeit ist die Form des Wissen-
dürfens von dem, was ich nicht schon bin, und die Vorbereitung des Seins selbst.
Kierkegaard nennt sein Verfahren des öfteren eine »experimentierende Psycholo-
gie«51, Nietzsche sein Denken »versucherisch«.52
Darum lassen sie, was sie selbst sind, und was sie zuletzt denken, gern bis zur Un-
kenntlichkeit verhüllt und in der Erscheinung bis zur Unfaßbarkeit zusammensinken.
Kierkegaards Pseudonym schreibt: »Das Etwas ..., das ich bin, das ist gerade ein Nichts«;
es gewährt ihm eine hohe Befriedigung, seine »Existenz auf dem kritischen Nullpunkt
zu halten, ... zwischen Etwas und Nichts, als ein bloßes Vielleicht«." 53 Und Nietzsche
nennt sich gern einen »Philosophen des gefährlichen Vielleicht«." ' 54
Reflexion ist beiden insbesondere Selbstreflexion. Sich | selbst verstehen ist ihnen 23
der Weg der Wahrheit. Aber sie erfahren beide, wie auf diesem Wege die eigene Substanz
verschwinden, das freie, schaffende Selbstverständnis durch ein unfreies Sichdrehen um
das eigene empirische Dasein ersetzt werden kann. Kierkegaard kennt das Entsetzliche,
wenn alles »vor einem krankhaften Grübeln über die eigene jämmerliche Geschichte
verschwindet«! Er sucht den Weg »zwischen diesem Verzehren seiner selbst unter Be-
trachtungen, als wäre man der einzige Mensch, der jemals gewesen ist, und - einem
ärmlichen Trost über ein allgemeines menschliches commune naufragium«[.]iv 55 ♦

i IV,244.

ii IV, 247.

iii 7, 11.

iv Tag. I, 92.
 
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