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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0077
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16 Vernunft und Existenz
Er kennt die »unglückliche Relativität in allem, die unendlichen Fragen darüber, was
ich bin«? 56 Nietzsche aber spricht es aus:
»Zwischen hundert Spiegeln
vor dir selber falsch ...
in eignen Stricken gewürgt
Selbstkenner!
Selbsthenker! ...
Zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt,
♦ ein Fragezeichen« ..." 57
Das Zeitalter, sich in der Vielfachheit seines Reflektierens und rationalisierenden
Sprechens selbst nicht mehr zurechtfindend, drängt aus der Reflexion zu den Ursprüngen.
Kierkegaard und Nietzsche scheinen auch hier vorwegzunehmen; erst spätere Genera-
tionen suchten allgemein das Ursprüngliche in der Sprachlichkeit, im ästhetischen Reiz
des unmittelbar Schlagenden, in der allgemeinen Simplizität, im unreflektierten Erle-
ben, im Dasein der nächsten Dinge. Dem scheinen schon Kierkegaard und Nietzsche zu
dienen:
Beide leben bewußt mit leidenschaftlicher Liebe am Quell menschlicher Mittei-
lungsmöglichkeiten:
24 | Sie sind sprachschöpferisch in dem Maße, daß ihre Werke zu den Gipfeln des Schrift-
tums ihres Volkes gehören; und sie sind sich dessen bewußt. Sie sind es in der hin-
reißenden Weise, die sie zu den gelesensten Schriftstellern macht, obgleich ihr Gehalt
von gleichem Gewicht, ihr echtes Verständnis von gleicher Schwere ist wie die irgend-
eines der großen Philosophen. Aber beide kennen auch schon die Verselbständigung
des Sprachlichen und verachten das Literatentum.
Sie sind bis zum Rausch von der Musik ergriffen; aber beide warnen vor der Verfüh-
rung durch die Musik und gehören mit Plato und Augustin zu ihren existentiellen Ver-
dächtigem.58
Sie erreichen überall Formeln von schlagender Einfachheit; aber beide sind voll
Sorge vor der Simplizität, welche, um der Schwäche und dem Durchschnitt einen ob-
zwar trügerischen Boden zu geben, die geistlose platte Vereinfachung an die Stelle setzt
der wahren Einfachheit, welche nur als Ergebnis des verwickeltsten Bildungsprozesses
ohne rationale Eindeutigkeit wie das Sein selbst offenbar wird. Sie warnen, wie nie vor
ihnen es Denker taten, ihre Sätze, die so apodiktisch dastehen, einfach hinzunehmen.
Sie gehen in der Tat den radikalsten Weg zu dem Ursprung, aber so, daß ihnen die
dialektische Bewegung nirgends aufhört. Der Ernst wird weder aufgehoben in der I1-

i Tag. 1, 88.
ii 8,422, 424.
 
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