Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation
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lusion dogmatischer Festigkeit eines vermeinten Ursprungs noch dadurch, daß Spra-
che, ästhetischer Reiz, Simplizität zum Zweck werden. -
Beide gehen einen Weg, der ihnen nicht auszuhalten ist ohne einen transzenden-
ten Halt; denn sie reflektieren nicht wie die durchschnittliche Modernität mit der
selbstverständlichen Grenze der vitalen Bedürfnisse und Interessen. Sie, denen es um
alles oder nichts geht, wagen die Grenzenlosigkeit. Aber dies vermögen sie nur, weil
sie von An|fang an wurzeln in dem, was ihnen zugleich verborgen ist: beide sprechen 25
in ihrer Jugend von dem unbekannten Gott. Kierkegaard schrieb noch mit 25 Jahren:
»Ungeachtet ich noch weit davon entfernt bin, mich innerlich selbst zu verstehen,
habe ich ... den unbekannten Gott verehrt.«159 Und Nietzsche schuf mit 20 Jahren sein
erstes unvergeßliches Gedicht: »Dem unbekannten Gott«," 6° das schließt:
[»]Ich will dich kennen, Unbekannter, ♦
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.«
Niemals können sie im Endlichen und Begriffenen, darum Nichtigen bleiben, weil sie ♦
grenzenlos reflektieren, aber in der Reflexion selbst können sie ebensowenig aushal-
ten. Gerade weil er ganz durchreflektiert sei, meint Kierkegaard: »Verläßt mich das re-
ligiöse Verständnis meiner selbst, so ist mir zumute wie einem Insekte zumute sein
muß, mit dem die Kinder spielen: so unbarmherzig scheint mir das Dasein mit mir
umzugehen.«1" 61 In der furchtbaren Einsamkeit, von schlechthin niemandem verstan-
den, mit keinem Menschen wahrhaft verbunden, ruft er Gott an: »Gott im Himmel,
wenn da doch nicht ein Innerstes wäre in einem Menschen, wo all dieses vergessen
sein kann ... wer könnte es aushalten!«iv 62
Jederzeit ist sich Nietzsche bewußt, auf dem Meer des Unendlichen sich zu bewe-
gen, das Land für immer preisgegeben zu haben. Er weiß, daß es etwa für Dante und
Spinoza noch gar nicht gab, was er als seine Einsamkeit kennt: sie hatten irgendwie ei-
nen Gott zur Gesellschaft." 63 Aber Nietzsche, zunichte werdend in seiner Einsamkeit,
ohne Menschen und ohne den alten Gott, sieht Zarathustra und | denkt die ewige Wie- 26
derkehr, diesen Gedanken, der ihn ebenso erschauern läßt wie beglückt. Ständig lebt
er wie ein zu Tode Verwundeter. An seinen Problemen leidet er. Sein Denken ist ein
Sichaufraffen: »Wenn ich nur den Mut hätte, alles zu denken, was ich weiß.«vi 64 Aber ♦
i Tag. 1, 35.
ii Jugendschriften, München 1923, 209.
iii IV, 332.
iv Tag. 1, 259.
v An Overbeck 2. 7. 85.
vi An Overbeck 12. 2. 87.
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lusion dogmatischer Festigkeit eines vermeinten Ursprungs noch dadurch, daß Spra-
che, ästhetischer Reiz, Simplizität zum Zweck werden. -
Beide gehen einen Weg, der ihnen nicht auszuhalten ist ohne einen transzenden-
ten Halt; denn sie reflektieren nicht wie die durchschnittliche Modernität mit der
selbstverständlichen Grenze der vitalen Bedürfnisse und Interessen. Sie, denen es um
alles oder nichts geht, wagen die Grenzenlosigkeit. Aber dies vermögen sie nur, weil
sie von An|fang an wurzeln in dem, was ihnen zugleich verborgen ist: beide sprechen 25
in ihrer Jugend von dem unbekannten Gott. Kierkegaard schrieb noch mit 25 Jahren:
»Ungeachtet ich noch weit davon entfernt bin, mich innerlich selbst zu verstehen,
habe ich ... den unbekannten Gott verehrt.«159 Und Nietzsche schuf mit 20 Jahren sein
erstes unvergeßliches Gedicht: »Dem unbekannten Gott«," 6° das schließt:
[»]Ich will dich kennen, Unbekannter, ♦
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.«
Niemals können sie im Endlichen und Begriffenen, darum Nichtigen bleiben, weil sie ♦
grenzenlos reflektieren, aber in der Reflexion selbst können sie ebensowenig aushal-
ten. Gerade weil er ganz durchreflektiert sei, meint Kierkegaard: »Verläßt mich das re-
ligiöse Verständnis meiner selbst, so ist mir zumute wie einem Insekte zumute sein
muß, mit dem die Kinder spielen: so unbarmherzig scheint mir das Dasein mit mir
umzugehen.«1" 61 In der furchtbaren Einsamkeit, von schlechthin niemandem verstan-
den, mit keinem Menschen wahrhaft verbunden, ruft er Gott an: »Gott im Himmel,
wenn da doch nicht ein Innerstes wäre in einem Menschen, wo all dieses vergessen
sein kann ... wer könnte es aushalten!«iv 62
Jederzeit ist sich Nietzsche bewußt, auf dem Meer des Unendlichen sich zu bewe-
gen, das Land für immer preisgegeben zu haben. Er weiß, daß es etwa für Dante und
Spinoza noch gar nicht gab, was er als seine Einsamkeit kennt: sie hatten irgendwie ei-
nen Gott zur Gesellschaft." 63 Aber Nietzsche, zunichte werdend in seiner Einsamkeit,
ohne Menschen und ohne den alten Gott, sieht Zarathustra und | denkt die ewige Wie- 26
derkehr, diesen Gedanken, der ihn ebenso erschauern läßt wie beglückt. Ständig lebt
er wie ein zu Tode Verwundeter. An seinen Problemen leidet er. Sein Denken ist ein
Sichaufraffen: »Wenn ich nur den Mut hätte, alles zu denken, was ich weiß.«vi 64 Aber ♦
i Tag. 1, 35.
ii Jugendschriften, München 1923, 209.
iii IV, 332.
iv Tag. 1, 259.
v An Overbeck 2. 7. 85.
vi An Overbeck 12. 2. 87.