Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation
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zes Denken jedoch die bisherige systematische Philosophie aufzulösen scheint, jede
Spekulation verwirft und der, wenn er die Philosophie anerkennt, höchstens sagt: »Die
Philosophie kann auf uns achtgeben - aber nicht nähren.«113
Es könnte sein, daß Theologie wie Philosophie, wenn sie Kierkegaard folgen, sich
irgend etwas Wesentliches verschleiern, um seine Begriffe und Formeln für die eige-
nen ganz anderen Zwecke zu verwenden -
es könnte sein, daß innerhalb der Theologie auch eine ungläubige Theologie sich
mit den raffinierten Kierkegaardschen Denkmitteln in dialektischen Paradoxien eine
Weise der Glaubensaussagen herstellt, die es mit ihrem Verstände vereinbart, daß sie
sich für christlich gläubig hält -
es könnte sein, daß ein Philosophieren an der Hand Kier|kegaards sich heimlich 37
nährt von der christlichen Substanz, die es im Sprechen ignoriert.114
Was Nietzsche bedeutet, ist ebensowenig klar geworden. Seine Wirkung in Deutsch-
land wird von keinem anderen Philosophen erreicht.115 Aber es scheint, daß jede Hal-
tung, jede Weltanschauung, jede Gesinnung sich ihn als Gewährsmann holt. Es
könnte sein, daß wir alle noch nicht wissen, was dieses Denken im Ganzen in sich ♦
schließt und bewirkt.
Es ist daher die Aufgabe, zur Redlichkeit darüber zu kommen, für jeden, der Kier-
kegaard und Nietzsche auf sich von Einfluß werden läßt: Wie geht er eigentlich mit ih-
nen um, wie steht er zu ihnen, was sind sie ihm, was macht er aus ihnen?
Das Gemeinsame ihrer Wirkung, zu bezaubern und dann zu enttäuschen, zu er-
greifen und dann unbefriedigt stehen zu lassen, als ob Hände und Herz leer blieben,
ist nur der klare Ausdruck für ihren eigenen Willen: es kommt alles darauf an, was der ♦
Leser in seinem inneren Handeln durch sich selbst aus ihrer Mitteilung macht, wenn
ihm keine Erfüllung wird wie sonst durch bestimmte Erkenntnisse, durch ein Kunst-
werk, durch ein philosophisches System, durch eine gläubig hingenommene Prophe-
tie. Sie heben jede Befriedigung auf.
Sie sind in der Tat die Ausnahme, ohne Vorbild einer Nachfolge zu sein. Wo immer
jemand Kierkegaard oder Nietzsche nachgemacht hat, und sei es auch nur im Stil, ist
er lächerlich geworden. Was beide taten, war selbst schon augenblicksweise gerade an
der Grenze vorbeigegangen, wo das Erhabene ins Lächerliche umschlägt - was sie ta-
ten, war nur einmal möglich.116 Zwar ist alles Große von einer Einmaligkeit, die nie-
mals identisch wiederholt werden kann. Aber es ist im Verhalten zu dieser Einmalig-
keit etwas wesentlich Anderes, ob wir in aneignender Wieder]herstellung unserer selbst 38
in ihr leben, oder in Distanz der uns zwar verwandelnden, aber zugleich entfernenden
Orientierung.117
Sie entlassen uns, ohne uns ein Ziel zu geben und ohne uns bestimmte Aufgaben zu
stellen. Ein jeder kann durch sie nur werden, was er selbst ist. Aber was das in den Nach-
folgenden ist, ist bis heute nicht entschieden. Die Frage ist, wie zu leben sei für uns,
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zes Denken jedoch die bisherige systematische Philosophie aufzulösen scheint, jede
Spekulation verwirft und der, wenn er die Philosophie anerkennt, höchstens sagt: »Die
Philosophie kann auf uns achtgeben - aber nicht nähren.«113
Es könnte sein, daß Theologie wie Philosophie, wenn sie Kierkegaard folgen, sich
irgend etwas Wesentliches verschleiern, um seine Begriffe und Formeln für die eige-
nen ganz anderen Zwecke zu verwenden -
es könnte sein, daß innerhalb der Theologie auch eine ungläubige Theologie sich
mit den raffinierten Kierkegaardschen Denkmitteln in dialektischen Paradoxien eine
Weise der Glaubensaussagen herstellt, die es mit ihrem Verstände vereinbart, daß sie
sich für christlich gläubig hält -
es könnte sein, daß ein Philosophieren an der Hand Kier|kegaards sich heimlich 37
nährt von der christlichen Substanz, die es im Sprechen ignoriert.114
Was Nietzsche bedeutet, ist ebensowenig klar geworden. Seine Wirkung in Deutsch-
land wird von keinem anderen Philosophen erreicht.115 Aber es scheint, daß jede Hal-
tung, jede Weltanschauung, jede Gesinnung sich ihn als Gewährsmann holt. Es
könnte sein, daß wir alle noch nicht wissen, was dieses Denken im Ganzen in sich ♦
schließt und bewirkt.
Es ist daher die Aufgabe, zur Redlichkeit darüber zu kommen, für jeden, der Kier-
kegaard und Nietzsche auf sich von Einfluß werden läßt: Wie geht er eigentlich mit ih-
nen um, wie steht er zu ihnen, was sind sie ihm, was macht er aus ihnen?
Das Gemeinsame ihrer Wirkung, zu bezaubern und dann zu enttäuschen, zu er-
greifen und dann unbefriedigt stehen zu lassen, als ob Hände und Herz leer blieben,
ist nur der klare Ausdruck für ihren eigenen Willen: es kommt alles darauf an, was der ♦
Leser in seinem inneren Handeln durch sich selbst aus ihrer Mitteilung macht, wenn
ihm keine Erfüllung wird wie sonst durch bestimmte Erkenntnisse, durch ein Kunst-
werk, durch ein philosophisches System, durch eine gläubig hingenommene Prophe-
tie. Sie heben jede Befriedigung auf.
Sie sind in der Tat die Ausnahme, ohne Vorbild einer Nachfolge zu sein. Wo immer
jemand Kierkegaard oder Nietzsche nachgemacht hat, und sei es auch nur im Stil, ist
er lächerlich geworden. Was beide taten, war selbst schon augenblicksweise gerade an
der Grenze vorbeigegangen, wo das Erhabene ins Lächerliche umschlägt - was sie ta-
ten, war nur einmal möglich.116 Zwar ist alles Große von einer Einmaligkeit, die nie-
mals identisch wiederholt werden kann. Aber es ist im Verhalten zu dieser Einmalig-
keit etwas wesentlich Anderes, ob wir in aneignender Wieder]herstellung unserer selbst 38
in ihr leben, oder in Distanz der uns zwar verwandelnden, aber zugleich entfernenden
Orientierung.117
Sie entlassen uns, ohne uns ein Ziel zu geben und ohne uns bestimmte Aufgaben zu
stellen. Ein jeder kann durch sie nur werden, was er selbst ist. Aber was das in den Nach-
folgenden ist, ist bis heute nicht entschieden. Die Frage ist, wie zu leben sei für uns,