Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation
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noch unklar gewollten Gehalt zum Bewußtsein bringt. Philosophie ist als Denken je-
derzeit zugleich das sich für diesen Augenblick vollendende Seinsbewußtsein, das weiß,
daß es in seinem Ausgesprochensein als ein Endgültiges keinen Bestand hätte.
Entgegen einer vermeintlichen Überschau über die gei |stige und wirkliche Gesamt- 4 0
läge philosophieren wir in dem Bewußtsein einer Situation, die wieder an die letzten
Grenzen und Ursprünge des Menschseins führt. Die darin erwachsenden Aufgaben für
das Denken kann heute niemand in Vollständigkeit und Bestimmtheit entwickeln.
Wir leben gleichsam in der Brandung der Möglichkeiten, ständig bedroht, umgewor-
fen zu werden, aber stets bereit, uns trotzdem wieder zu erheben, - im Philosophieren
bereit, in der Gegenwart des Infragestellenden unsere wirklichen, d.h. das Menschsein
in uns hervorbringenden Gedanken zu vollziehen, die uns dann möglich sind, wenn
der Horizont grenzenlos, die Wirklichkeiten klar, die eigentlichen Fragen offenbar wer-
den. Aus den Aufgaben, die so dem Denken sich aufzwingen, greife ich für die nächs-
ten drei Vorlesungen eine heraus:
Das uralte Problem des Philosophierens, das in dem Verhältnis des Vernünftigen
zum Nichtvernünftigen zur Erscheinung kam, ist durch Aneignung der Überlieferung
im Blick auf Kierkegaard und Nietzsche in gegenwärtiger Gestalt neu zu sehen.
Wir formulierten dieses Grundproblem: Vernunft und Existenz. Die abkürzende For-
mel soll keine Antithese bedeuten, vielmehr eine Zusammengehörigkeit, die zugleich
über sich hinausweist.
Die Worte Vernunft und Existenz sind gewählt, weil uns in ihnen am eindringlichs-
ten und reinsten anzusprechen schien die Frage nach der Erhellbarkeit des Dunkels,
dem Ergreifen des Ursprunges, aus dem wir leben, ohne daß er sich durchsichtig ma-
chen könnte, wenn er auch das Maximum an Rationalität fordert.
Das Wort Vernunft trägt für uns die Kantische Weite, Helle und Wahrhaftigkeit;118
das Wort Existenz ist durch Kierkegaard in eine Sphäre gehoben, durch die es in unend-
licher Tiefe erscheinen läßt, was sich allem bestimmten | Wissen entzieht; das Wort ist 41
nicht abzubrauchen, weil es nur eines der vielen Worte für Sein ist, es also entweder
gar nichts bedeutet oder sogleich den Kierkegaardschen Anspruch erhebt.119
Was wir in den nächsten drei Vorlesungen unternehmen, wird jedesmal um einen
anderen zum Thema gehörenden Hauptgedanken sich bewegen.120 Aber gemeinsam
soll ihnen sein, daß sie in Gestalt logisch gefaßter Fragen gerade das erstreben, was an
Bedeutung das Lebensnächste ist. Die Philosophie, wo sie gelingt, ist jenes einzige Den-
ken, in dem logische Abstraktheit und wirkliche Gegenwart gleichsam identisch wer-
den. Die Grundantriebe lebendigen Philosophierens können sich wahrhaft nur in rei-
ner Formalität kundgeben. Es sind gedankliche Operationen, deren Begreifen und
Mitmachen ein inneres Handeln des ganzen Menschen bewirken kann: das Sich-selbst- ♦
hervorbringen aus dem Ursprung der gedanklichen Möglichkeiten, um des Seins im
Dasein innezuwerden.
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noch unklar gewollten Gehalt zum Bewußtsein bringt. Philosophie ist als Denken je-
derzeit zugleich das sich für diesen Augenblick vollendende Seinsbewußtsein, das weiß,
daß es in seinem Ausgesprochensein als ein Endgültiges keinen Bestand hätte.
Entgegen einer vermeintlichen Überschau über die gei |stige und wirkliche Gesamt- 4 0
läge philosophieren wir in dem Bewußtsein einer Situation, die wieder an die letzten
Grenzen und Ursprünge des Menschseins führt. Die darin erwachsenden Aufgaben für
das Denken kann heute niemand in Vollständigkeit und Bestimmtheit entwickeln.
Wir leben gleichsam in der Brandung der Möglichkeiten, ständig bedroht, umgewor-
fen zu werden, aber stets bereit, uns trotzdem wieder zu erheben, - im Philosophieren
bereit, in der Gegenwart des Infragestellenden unsere wirklichen, d.h. das Menschsein
in uns hervorbringenden Gedanken zu vollziehen, die uns dann möglich sind, wenn
der Horizont grenzenlos, die Wirklichkeiten klar, die eigentlichen Fragen offenbar wer-
den. Aus den Aufgaben, die so dem Denken sich aufzwingen, greife ich für die nächs-
ten drei Vorlesungen eine heraus:
Das uralte Problem des Philosophierens, das in dem Verhältnis des Vernünftigen
zum Nichtvernünftigen zur Erscheinung kam, ist durch Aneignung der Überlieferung
im Blick auf Kierkegaard und Nietzsche in gegenwärtiger Gestalt neu zu sehen.
Wir formulierten dieses Grundproblem: Vernunft und Existenz. Die abkürzende For-
mel soll keine Antithese bedeuten, vielmehr eine Zusammengehörigkeit, die zugleich
über sich hinausweist.
Die Worte Vernunft und Existenz sind gewählt, weil uns in ihnen am eindringlichs-
ten und reinsten anzusprechen schien die Frage nach der Erhellbarkeit des Dunkels,
dem Ergreifen des Ursprunges, aus dem wir leben, ohne daß er sich durchsichtig ma-
chen könnte, wenn er auch das Maximum an Rationalität fordert.
Das Wort Vernunft trägt für uns die Kantische Weite, Helle und Wahrhaftigkeit;118
das Wort Existenz ist durch Kierkegaard in eine Sphäre gehoben, durch die es in unend-
licher Tiefe erscheinen läßt, was sich allem bestimmten | Wissen entzieht; das Wort ist 41
nicht abzubrauchen, weil es nur eines der vielen Worte für Sein ist, es also entweder
gar nichts bedeutet oder sogleich den Kierkegaardschen Anspruch erhebt.119
Was wir in den nächsten drei Vorlesungen unternehmen, wird jedesmal um einen
anderen zum Thema gehörenden Hauptgedanken sich bewegen.120 Aber gemeinsam
soll ihnen sein, daß sie in Gestalt logisch gefaßter Fragen gerade das erstreben, was an
Bedeutung das Lebensnächste ist. Die Philosophie, wo sie gelingt, ist jenes einzige Den-
ken, in dem logische Abstraktheit und wirkliche Gegenwart gleichsam identisch wer-
den. Die Grundantriebe lebendigen Philosophierens können sich wahrhaft nur in rei-
ner Formalität kundgeben. Es sind gedankliche Operationen, deren Begreifen und
Mitmachen ein inneres Handeln des ganzen Menschen bewirken kann: das Sich-selbst- ♦
hervorbringen aus dem Ursprung der gedanklichen Möglichkeiten, um des Seins im
Dasein innezuwerden.