Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0097
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
36

Vernunft und Existenz

gleichsam in dem Leibe des empirischen Daseins dieses bestimmten Bewußtseins und
dieses Geistes, ist in der Tat die einzig mögliche Offenbarung137 der Tiefe des Seins als
Geschichtlichkeit. In allen Weisen des Umgreifenden kann Selbstsein sich erst als Exis-
tenz eigentlich gewiß sein.
Kontrastieren wir zunächst Existenz zum Bewußtsein überhaupt, so ist sie die Ver-
borgenheit des Grundes in mir, dem Transzendenz sich zeigt:
Das Umgreifende, das wir sind, ist stets nur durch Bezug auf ein Anderes. Wie ich
Bewußtsein nur bin, indem ich zugleich das Andere des gegenständlichen Seins erblicke,
unter dessen Bedingungen ich da bin, und mit dem ich umgehe, so bin ich Existenz
nur in eins mit dem Wissen um Transzendenz als die Macht, durch die ich eigentlich
ich selbst bin. Das Andere ist entweder das Sein in der Welt für das Bewußtsein über-
haupt - oder es ist die Transzendenz für Existenz. Dieses zwiefache Andere wird erst
durch das Innewerden der Existenz deutlich. Ohne Existenz fiele der Sinn von Trans-
54 zendenz. Es bliebe nur das gleichgültige | Nichtzuerkennende, ein Zugrundeliegend-
Gedachtes, ein Auszudenkendes, oder auch ein für das bewußte Dasein Unheimliches
und Erschreckendes, und damit ein psychologisch zu erforschendes Dasein von Aber-
glauben und Angst, die nun durch vernünftige Einsicht in das Faktische vermöge des
Bewußtseins überhaupt überwunden werden sollen. Allein durch Existenz wird Trans-
zendenz ohne täuschenden Aberglauben gegenwärtig als die Wirklichkeit, die, für sich
nie verschwindend, eigentlich ist.
Kontrastieren wir weiter die Existenz dem Geist, so ist sie wie der Gegenwurf zum
Geiste:
Geist ist Ganzwerdenwollen, mögliche Existenz ist Eigentlichseinwollen.
Geist ist das durchgehends Verständliche, im Ganzen zu sich Kommende, Existenz
aber das Unverständliche, als Existenz gegen und mit Existenz Stehende, jedes Ganze
auch Durchbrechende, ohne ein schlechthin Ganzes je zu erreichen.
Im Geiste würde die vollendete Durchsichtigkeit selbst der Seinsursprung werden,
Existenz dagegen bleibt in allem geistigen Hellwerden der immer auch unaufhebbare
dunkle Ursprung.
Geist läßt alles in ein Allgemeines und Ganzes aufheben und verschwinden: der Ein-
zelne ist als Geist nicht er selbst, sondern gleichsam die Einheit des zufällig Individuel-
len und des notwendig Allgemeinen. Existenz aber ist unaufhebbar in ein Anderes, ist das
selbst schlechthin Haftende, Unvertretbare und damit gegenüber allem Dasein, Bewußt-
sein und Geist eigentlich Seiende vor der Transzendenz, der allein sie sich restlos hingibt.
Der Geist will alles Einzelne erfassen aus dem Allgemeinen, als dessen Exemplar er
♦ es erkennt oder aus dem Ganzen, als dessen Glied er es erblickt. Existenz als Möglich-
55 keit der nicht mehr aus einem gültigen Allgemeinen abzu[leitenden Entscheidung ist
Ursprung in der Zeit, ist der Einzelne als Geschichtlichkeit: das Ergreifen der Zeitlosig-
keit durch Zeitlichkeit, nicht durch den allgemeinen Begriff.138
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften