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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0099
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Vernunft und Existenz

für uns) oder der Geist (als das eine Ganze der in sich zusammenhängenden Bewegung
des von Ideen beseelten Bewußtseins).
Als den Ursprung aber, von dem alle diese Weisen des Umgreifenden erst beseelt
und für den sie gleichsam sprechend werden, berührten wir die Existenz: den dunk-
♦ len Grund des Selbstseins, die Verborgenheit, aus der ich mir entgegenkomme, und
für die erst Transzendenz wirklich wird.
57 | Der Existenz unlösbar verbunden ist ein Anderes, das auf den Zusammenhang al-
ler Weisen des Umgreifenden geht. Dies ist kein neues Ganzes, sondern die ständige
Forderung und Bewegung. Es ist selbst keine hinzukommende Weise des Umgreifen-
den, sondern das Band aller Weisen des Umgreifenden. Es heißt Vernunft.
Was »Vernunft« in der Geschichte war, als was sie sich begriff, was sie für Kier-
kegaard und Nietzsche noch bedeutete, als was sie im Vertrauen zu ihr, als was sie im
Mißtrauen gegen sie gemeint war, das wird in jedem Fall zur Frage. Die Erhellung der
Weisen des Umgreifenden muß die Vieldeutigkeit dessen, als was Vernunft gilt, durch-
dringen lassen.
Heißt Vernunft das gegenständlich klare Denken, diese Verwandlung des Undurch-
sichtigen in Durchsichtigkeit, so ist sie nichts weiter als das Umgreifende des Bewußt-
seins überhaupt. Als solches nennt man sie gemäß der Überlieferung des deutschen
Idealismus besser Verstand.141
Heißt Vernunft der Weg zu den Ganzheiten, das Leben der Idee, so ist sie das Um-
greifende des Geistes.
Heißt Vernunft aber der Vorrang des Denkens in allen Weisen des Umgreifenden,142
so ist damit mehr getroffen als nur Denken. Sie ist das alle Grenzen überschreitende,
allgegenwärtig fordernde Denken, das nicht nur erfaßt, was allgemeingültig wißbar
und was selbst ein Vernunftsein, im Sinne von Gesetzlichkeit und Ordnung des Ge-
♦ schehens, ist, sondern auch das Andere zu Tage bringt, ja vor dem schlechthin Wider-
vernünftigen, es berührend und dadurch dieses selbst erst zum Sein bringend, steht.
Vernunft ist fähig, durch den Vorrang des Denkens in ständiger Grenzüberschreitung
alle Weisen des Umgreifenden zur Helligkeit zu bringen, ohne selbst ein Umgreifen-
des wie sie zu sein. Sie ist nur gleichsam das eigentlich Umgreifende, das sich doch
58 ständig zurücknehmen muß, ungreifbar bleibt | außer in der Gestalt der Weisen des
Umgreifenden, in denen sie sich bewegt.
Vernunft ist kein eigener Ursprung, aber weil sie das umfassende Band ist, ist sie wie
ein Ursprung, in dem alle Ursprünge erst zutage kommen. Sie ist die Unruhe, die es
nicht erlaubt, es bei etwas bewenden zu lassen; sie vollzog den Bruch mit einer Unmit-
telbarkeit des noch Unbewußten in jeder Weise des Umgreifenden, das wir sind; sie
treibt beständig voran. Aber sie ist es auch, die am Ende die große Ruhe erwirken kann,
nicht die Ruhe einer vermeintlich sich selbst vertrauenden Vernunftsubstanz, sondern
des durch Vernunft uns aufgehenden Seins.
 
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