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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0104
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Das Umgreifende

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des Umgreifenden. Die Verirrung liegt jedesmal darin, daß man als Wissensinhalt
zu gewinnen meint, was allein als Grenzbewußtsein und Anspruch des Selbsttuns
wahr ist.
Das Umgreifende wird als empirische Wirklichkeit des | Daseins, des Bewußt- 65
seins und des Geistes scheinbar Gegenstand der Anthropologie, Psychologie, Soziologie
und der Geisteswissenschaften. Sie erforschen die menschlichen Erscheinungen in der
Welt, aber so, daß das, was sie erkennen, gerade nie die umgreifende Wirklichkeit die-
ses Seins ist, das für dieses selbst unerkannt doch jeweils gegenwärtig ist. Keine Religi-
onsgeschichte oder Religionssoziologie etwa erreicht das, was in dem, das sie Religion
nennen, im Menschen dessen Existenz selbst war. Sie können es nur nach seinem Tat-
bestand aufnehmen, den sie mit einem Sprung, für die Erklärung schlechthin unbe-
greiflich, in die Wirklichkeit des Beobachtbaren treten sehen. Alle diese Wissenschaf-
ten drängen zu etwas, das sie gerade nie erreichen. Sie haben das Faszinierende, mit
dem eigentlich Relevanten umzugehen. Sie täuschen, wenn sie in ihrer feststellen-
den und ableitenden Immanenz das Sein selbst zu ergreifen meinen. Diese universa-
len Wissenschaften konsolidieren sich daher nicht. Alle ihre Abgrenzungen sind nur
relativ. Sie nehmen einzeln die Gestalt an, durch alle Wissenschaften quer hindurch
zu gehen. Sie scheinen keinen eigenen Boden zu gewinnen, da sie das Umgreifende
im Auge haben, das, von ihnen erfaßt, doch nie mehr das Umgreifende ist. Ihr Zauber
ist trügerisch, aber er wird fruchtbar, wenn durch sie die sich bescheidende, relative,
grenzenlose Erkenntnis unserer Erscheinung in der Welt erfolgt.
Auch Vernunft und Existenz haben das zu ihrer Durchsichtigkeit und Erweckung
dringende Denken; zur Vernunft gehört die philosophische Logik, zur Existenz die Exis-
tenzerhellung.148
Die Logik aber ist nicht mehr von philosophischer Wahrheit, sondern abgeglitten
zu einer täuschenden Wissenschaft vom Ganzen, wenn sie eine universale Wissen-
schaft vom Bewußtsein überhaupt wurde. In den großartigen, | aus einem einzigen 66
Prinzip sich entfaltenden Kategorienlehren sollte das Ganze des Umgreifenden als das
All des Seins selbst seiner Form nach, sollten die Gedanken Gottes vor der Schöpfung149
durchschaut und nachgedacht werden. Aber Wahrheit haben diese Untersuchungen
nur innerhalb der offenen philosophischen Logik als Orientierung über Möglichkei-
ten der Form des Denkens, nach vielen, nur hinzunehmenden Richtungen, gültig für
die Erscheinung im Gegenständlichen; sie bleiben ohne Ende und ohne durchgehend
beherrschendes, sie vermeintlich hervorbringendes Prinzip. Als Selbsterhellung der
Vernunft ist die Logik Philosophie und nicht mehr gegenständliche, vermeintliche Er-
kenntnis des Ganzen.
Existenzerhellung erkennt nicht die Existenz, sondern appelliert an ihre Möglich-
keiten. Sie würde aber als Existentialismus150 ein Sprechen wie von einem erkannten
Gegenstand sein und würde, gerade weil sie der Grenzen innewerden und den unab-
 
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