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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0105
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Vernunft und Existenz

hängigen Grund erhellen soll, nur um so tiefer in die Irre gehen, indem sie Erschei-
nungen der Welt unter ihre Begriffe erkennend und beurteilend subsumierte. -
In jeder der Verfestigungen, Isolierungen und Verabsolutierungen geht also der ei-
gentliche Gedanke des Umgreifenden verloren. Im gegenständlich gewordenen Um-
greifenden ist nicht mehr das wahre Umgreifende.
Dessen Grundgedanke ist vielmehr ein gleichsam umwendender Gedanke, der uns
aus allem natürlich Gegenständlichen unseres gewohnten Wissens herausnimmt. Wir
sind in der Welt mit Dingen, Inhalten und Gegenständen beschäftigt und fragen gar
nicht nach dem, als was wir all dieses haben, meinen, wollen; wir behaupten Wahr-
heiten und fragen gar nicht, was denn Wahrheit überhaupt sei; wir haben es mit Fra-
gen in der Welt zu tun, und fragen gar nicht nach dem Fragenden; beherrscht von dem,
67 worauf | es uns in Praxis und Forschung als auf das Erreichbare und Wißbare ankommt,
betreten wir nicht die Grenze, von der her dieses ganze Sein des Tuns, Habens, For-
schens der Frage unterworfen wird. Dagegen verlangt der Gedanke des Umgreifenden,
das Erkennen der Grenze allen Seins für uns dadurch zu vollziehen, daß das gewohnte
Erkennen von Gegenständen aufgegeben wird. Indem er dem Erkennen, das immer
dieses Erkennen von Gegenständen ist, Grenzen setzt, befreit er den in diesem Den-
ken wirklichen Menschen und alles von ihm getroffene Sein aus der Enge seines ver-
meintlichen Identischseins mit seiner Erkennbarkeit und seinem fixierten Erkannt-
sein. Er umgreift lebendig das tote Sein eines Gewußtseins.
Es ist ein einfacher, aber philosophisch unendlich folgenreicher Gedanke.
Erstens trifft er den Denkenden selbst: Als das, als was ich mich selbst weiß (alle Wei-
sen der Ichschemata' 151 und ihrer Erfüllungen) bin ich nicht eigentlich ich selbst. In
jedem Augenblick, in dem ich mich zum Objekt mache, bin ich selbst zugleich mehr
als dieses Objekt, nämlich das Wesen, das sich auf diese Weise objektivieren kann. Alle
Bestimmungen meines Seins treffen etwas, als das ich zum Gegenstand gemacht bin,
als den ich mich aber nur nach einer Seite und in einem Besonderen wiedererkenne,
nicht als mich selbst. Wenn ich aber mich als Dasein, Leben und Natur verstehe, aus-
schließend verstehe, indem ich mich zum Objekt mache, und mich nur, so weit ich
Objekt bin, und wie ich Objekt bin, begreife, so verliere ich darin zugleich mich selbst,
♦ verwechsle ich, wie ich für mich bin, mit dem was ich selbst sein kann.
Zum Sein des Umgreifenden ist zugehörig ein Selbstbewußtsein, das sich ebenso
als Dasein und Leben sieht, wie es als Bewußtsein überhaupt und als Geist das kriti-
68 sche Grenzbewußtein gewinnt, als Vernunft und Existenz aber | erst sich seiner selbst

♦ i Über »Ichschemata« vgl. meine »Existenzerhellung«, S. 2/ff., aus meiner »Philosophie«, Berlin,
Springer 1932. (Erster Band: Philosophische Weltorientierung; Zweiter Band: Existenzerhellung;
Dritter Band: Metaphysik).
 
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