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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0109
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Vernunft und Existenz

meinschaft, wie sie andererseits auseinanderlaufen, als ob nichts gewesen wäre, je
nach dem Zeitpunkt der instinktbeherrschten Verläufe des bloßen Naturgeschehens,
das sie sind. Tiere machen sich triebhaft verständlich. Daß sie sich zusammenfinden,
sich so etwas wie Zeichen geben, sich sogar als Individuen fest aneinander ketten, das
geschieht nicht wie menschliche Verbindung, in der der Mensch in irgendeinem
Grade auch sich selbst mitteilt, sondern infolge einer bewußtlosen, dem Menschen
nach ihrem Sinn unzugänglichen biologischen Ordnung in ungeschichtlicher Iden-
tität an immer anderen Exemplaren.
73 Der Mensch dagegen ist als Einzelner vergleichsweise | zwar losgelöster als viele
Tiere, aber seine Gemeinschaft bedingt ihn auch entscheidender, und diese Gemein-
schaft ist wesensverschieden von der der Tiere.
Menschliche Gemeinschaft als den Tieren analoge, naturgesetzlich verläßliche Ge-
bundenheit ist schwach. Rein biologisch ist der Mensch hier wie überall den Tieren
unterlegen. Seine Gemeinschaft ist erstens wesentlich keine unmittelbare, sondern
eine durch Bezug auf ein Anderes vermittelte: durch Bezug auf gemeinsam gewußte Zwe-
cke in der Welt, durch Bezug auf Wahrheit, durch Bezug auf Gott.
Die menschliche Kommunikation ist in diesen Bezügen mit dem Wechsel der
möglichen Inhalte zweitens ständig bewegt; sie findet keinen Ruhepunkt und nicht
wie die Tiere ein nur sich wiederholendes endgültiges Ziel. Sie ist historisch, und zwar
auf einem nach Anfang und Ende unübersehbaren Wege unablässiger Verwandlung
durch die Erinnerung und Aneignung des Vergangenen wie jeweils neues Planen ei-
nes Zukünftigen. Menschliche Gemeinschaft steht daher im Gegensatz zu der der
Tiere in der Möglichkeit unabsehbarer Kontinuität allseitigen Sichausbreitens und
des Zusammennehmens aus Vergangenheit und Gegenwart; sie ist damit aber auch
eine durch diese Bewegung stets unsichere, gefährdete Wirklichkeit, die immer von
neuem sich gewinnen, sich begrenzen und wieder erweitern, sich prüfen und vor-
antreiben muß. Sie ist nicht im Besitze ihres endgültigen Zustandes als der Wahr-
heit ihres Seins, vielmehr, wenn sie wahr ist, auf diese nur gerichtet, daher in der
♦ Spannung der Umwege, des Irrens, des Sichüberschlagens und Wieder-zurückkeh-
rens.
Durch diese Weise der Bewegung ist das Menschsein drittens nicht durch Verer-
bung allein, sondern erst durch Überlieferung. Jedes neue Menschsein beginnt mit die-
ser Kommunikation, nicht schon mit seiner biologischen Tatsächlichkeit. Äußerlich
74 sichtbar ist das an den unglück[liehen Taubstummen früherer Zeiten, die infolge einer
angeborenen oder im Lebensanfang erworbenen Zerstörung ihres Gehörorgans (man-
gels des modernen Unterrichts, der sie heute zu vollwertigen Menschen macht) ohne
Entwicklung blieben: sie konnten, die Sprache nicht hörend, der Sprache nicht mäch-
tig werden, daher an der Überlieferung keinen Anteil gewinnen. Sie wurden von den
wirklichen Idioten kaum unterschieden.155
 
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