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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0111
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Vernunft und Existenz

sprengen. Eine »ungesellige Geselligkeit«, in der jeder den Anderen nicht entbehren,
aber auch nicht leiden kann, ist nach Kant der Grundzug dieses Daseins.158 Diese Da-
seinskommunikation159 hat folgende Eigenschaften:
Die Gefahr erzwingt, sich schnell und leicht in dem zu verstehen, was daseinsnot-
76 ♦ wendig ist. Wie dieses erfaßt | wird, das gründet sich aber auf das Erleben der Meisten,
der Durchschnittlichen, dessen, was, wenn es gesagt wird, jeder versteht. Die sich glei-
che Daseinsartung bestimmt, was Glück, was Befriedigung, was daseinsnotwendig ist.
In der Daseinskommunikation ist ferner, je größer die Gefahr, um so entschiedener
die Einheit des Willens aller notwendig. Dieser ist nur im Gehorsam zu gewinnen. Da-
her kann über das zur Erfüllung der Daseinsinteressen zu Tuende nicht jeder Einzelne
entscheiden.
Wie dies aber geschieht, das bringt die mannigfachen Gestalten des Regierens her-
vor. In der Kommunikation der Gemeinschaft ist nicht das eindeutige Verhältnis zwi-
schen einem einzigen, allwissenden Befehlenden und der Masse aller übrigen, die ge-
dankenlos gehorchen, sondern es finden sich in vielfacher Gliederung stets viele
zusammen, die im Verstehen miteinander arbeiten bis zur Herbeiführung der jeweili-
gen Entscheidung.
In der Daseinsgemeinschaft, sofern wir ihren Sinn isolieren, gilt daher einpragma-
tischer Wahrheitsbegriff:160 Die Wahrheit liegt nicht im schon Gewußten oder einem
endgültig Wißbaren oder in einem Unbedingten, sondern in dem, was entspringt und
was sich ergibt. Es gibt nur relative und sich verändernde Wahrheit, wie das Dasein
selbst als sich verändernd ist. Dieser Prozeß kann so verlaufen, daß der Standpunkt
meines Gegners - heute für mich unberechtigt - morgen in veränderter Situation auch
für meine eigenen Absichten relevant ist. Das aufbauende Handeln ist in der Daseins-
gemeinschaft ständiger Kompromiß. Er ist die Wahrheit, in der nicht vergessen ist, daß
jeder noch so richtig erscheinende Standpunkt durch die Tatsächlichkeit des Gesche-
hens auch widerlegt werden kann: daher ist für die Kontinuität der Daseinsgemein-
schaft die Kunst des Miteinanderredens zu entwickeln? 161

♦ i E. Baumgarten hat in einer interessanten Studie über Franklin (Benjamin Franklin und die Psycho-
logie des amerikanischen Alltags, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, Februar
1933, S. 25iff.) dies dargelegt. Er zeigt, wie Franklin für diese Kommunikation Prinzipien entwi-
ckelt hat - die allerdings über bloße Daseinskommunikation hinausgehen —: Die Empfindlichkeit
des Menschen als solchen in seiner Eigenwilligkeit und seinen verborgenen Daseinsinteressen er-
fordert auch von dem, der die Wahrheit und aus ihr das Wissen um das jetzt Richtige zweifellos
zu besitzen meint, das urbane Verhalten in der Willigkeit einander zuzuhören und das selber Ge-
dachte und Geplante auch im Ernst noch in Frage stellen zu lassen. Alles direkte Behaupten von
Wahrheit, statt es in der Frage zu halten, zerstört die Mitteilung von Wahrheit, weil der Andere
nicht eigentlich zuhört, da er ja gar nicht mehr gefragt wird. Darum ist das Prinzip der Mitteilung
der Wahrheit nicht minder wichtig als die mitgeteilte Wahrheit selbst. Das wirksame und wahr-
haftige Geltenlassen heißt nicht, daß ich den Andern in seiner Meinung lasse wie mich in der mei-
 
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