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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0122
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Wahrheit als Mitteilbarkeit

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Anders wäre Wahrheit, die sich ursprünglich an Kom\munikation bindet. Sie wäre gar 93
nicht außer der Verwirklichung der Kommunikation. Für sich allein wäre sie weder da
noch vollendet. Sie hätte zur Bedingung die Verwandlung nicht nur des Menschen,
an den mitgeteilt wird, sondern auch die des mitteilenden Menschen selbst infolge ei-
ner175 Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation, seines ebenso entschiedenen
Hören- wie Sagenkönnens, und seines bewußten Inneseins aller Weisen und Stufen ♦
der Kommunikation. Es wäre die Wahrheit, die erst als Kommunikation und durch sie
wirklich ist und somit in ihr erst entspringt, die weder vorher schon da ist und dann
mitgeteilt wird, noch ein methodisch erreichbares Ziel darstellt, in dem sie dann ohne
Kommunikation gelten könnte.
Bestehende Wahrheit hat in der Geschichte die philosophischen und religiösen
Techniken zur Prägung des Menschen entwickelt, alle die exercitia spiritualia, Jogatechni-
ken und mystischen Initiationen, um den Einzelnen statt durch Kommunikation durch
eine ihn in sich verschließende Disziplin zu verwandeln zum Innewerden der Wahrheit.
Will man sich aber nicht mit solchen, wenn auch großartigen, so doch festgeformten
und in der Formung nivellierenden, endgültigen und daher sogleich entartenden Ty-
pen des Menschen als seiner vermeintlichen Vollendung begnügen, so braucht man die
tiefer gehende Disziplin der ständig geübten Durchsichtigkeit der Kommunikation. Das, was
schon oft in der Begrenzung auf Zwecke in rationaler Durchsichtigkeit erreicht wurde,
was aber darüber hinaus wenige in geschichtlicher Gemeinschaft, immer zugleich auch
noch fragwürdig, verwirklichten, das müßte zum Anfang werden: zum Anspruch, ein
Menschentum hervorzubringen unter den Bedingungen nicht täuschender, nicht er-
leichterter, nicht entarteter, sondern grenzenlos erhellender Kommunikation.
Aber in dieser Kommunikation muß auch Unwahrheit | noch insofern gegenwär- 94
tig bleiben, als in ihr Bewegung ist, also die Wahrheit noch nicht vollendet ist, son-
dern bei gegenwärtiger Vollendung stets auch offen bleibt.
Hier ist wiederum der radikale Abgrund zwischen der dogmatischen und der kom-
munikativen Weise des Wahrheitwissens:
Wird die Voraussetzung einer bestehenden Wahrheit gemacht, die uns als solche
zugänglich ist, und gilt sie als das Feste außer mir, das schon da und nur zu finden ist,
ist also unsere Aufgabe ein Entdecken, nicht ein Hervorbringen, so gibt es entweder in
reiner Immanenz die einzig richtige Welteinrichtung, die wir herzustellen die Aufgabe
haben, oder das Jenseits, das nur wie eine andere in sichere Aussicht gestellte Welt ist.
Wenn aber in jeder Gestalt der Wahrheit für uns eine Grenze durch die Verwirkli-
chung der Kommunikation bleibt, so ist die unauflösliche Unvollendung der Welt und
aller welthaft erkennbaren Wahrheit das Letzte in der Immanenz. Jede Gestalt muß in
der Welt scheitern, keine kann sich als die Wahrheit schlechthin durchsetzen.
Wenn daher Wahrheit auf diesem Wege ist, so kann sie nur in der Transzendenz
sein, die nicht ein Jenseits als bloße zweite Welt oder die Welt noch einmal als die bes-
 
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