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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0123
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62

Vernunft und Existenz

sere Welt ist. Der Gedanke, der aus der Unvollendbarkeit jeder Kommunikation und
aus dem Scheitern jeder Gestalt der Wahrheit in der Welt die Transzendenz eigentlich
ergreift, ist wie ein Gottesbeweis: aus der Unvollendung jedes Sinns von Wahrheit trifft
er unter der Voraussetzung, daß Wahrheit sein müsse, auf Transzendenz.176 Er ist daher
gültig nur für Existenz, der Wahrheit unbedingtes Anliegen ist, und für deren Redlich-
keit die Wahrheit als eine und einzige in ruhigem Bestand der Zeitlosigkeit sich in der
Welt nirgends zeigt.
95 | Der kommunikativen Wahrheit bewußt zu werden, kommt es philosophisch darauf
an, alle Weisen des Umgreifenden so zu durchdenken, daß der Weg möglicher Exis-
tenz in der Welt den offensten Raum hat. Existenz soll als im Zeitdasein unaufhebbare
Bewegung sich angesichts der ganzen Weite der Wirklichkeiten und Möglichkeiten
halten. Nur dann kann der radikale aus Vernunft und Existenz entspringende Kommu-
nikationswille wirken, während der Besitz für endgültig behaupteter Wahrheit faktisch
die Kommunikation abbricht.
Die Offenheit des Kommunikationswillens ist eine doppelte: Erstens für die Wißbar-
keit des noch nicht Gewußten. Da, was nicht mitteilbar ist, ist, als ob es nicht wäre,
drängt die Offenheit dazu, alles nur Mögliche in das Medium der Mitteilbarkeit zu brin-
gen, damit es Sein für uns gewinne. Zweitens ist die Offenheit bereit für die Substanz je-
des wirklich sich mir mitteilenden Wesens als für ein Anderes, das ich nicht selbst bin,
mit dem ich aber im grenzenlosen Selbstwerdenwollen solidarisch sein kann. Das lie-
bende Suchen des Menschen erreicht keinen Abschluß.
Da aber mein Bewußtsein stets die Enge bleibt, einmal gegenüber dem Sein, das
mangels Mitteilbarkeit nicht für mich ist, aber doch unmerklich auf mich, mein Da-
sein und meine Welt wirkt, und dann durch das Dasein und die Existenz der anderen,
die nicht identisch mit mir sind und denken, aber durch ihre Mitteilung auch mein
Dasein bestimmen, ohne daß ich es sehe, und deren Kommunikation noch mich selbst
tiefer zu mir bringen könnte, so ist mein Bewußtsein nie das wahre schlechthin; denn es
ist nie das Ganze. Ich werde stets durch die unerwartete Einwirkung erinnert, nicht
aufzuhören in der Bewegung mit der Richtung auf das Wahre, oder muß die eigene Un-
wahrheit dadurch erfahren, daß die Dinge über mich hinweggehen. Die Wahrheit, sagt
96 Hegel, steht im Bunde mit der Wirk|lichkeit gegen das Bewußtsein.177 Es gibt diese Wirk-
lichkeit als die Wirkung des Nichtmitgeteilten und vielleicht nicht Mitteilbaren in
♦ der Welt, als das, worauf wir hören, ohne es zu verstehen, was uns dazwischen kommt,
und was wir nur erleiden. Der grenzenlose Kommunikationswille bedeutet dann nie-
mals, sich dem Andern als solchem einfach zu unterwerfen, sondern es kennen, hö-
ren, mit ihm rechnen zu wollen bis zur Notwendigkeit der Verwandlung seiner selbst.
Das Leben in der Gesamtheit des Umgreifenden, in dem ich mich finde, ist daher
die Notwendigkeit des Wagens: Die Erhellung selbst zeigt mich in der Situation, in der
 
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