Die Möglichkeiten gegenwärtigen Philosophierens
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die Bewahrung der Überlieferung dessen, was die Väter uns sagten, nur durch Ergreifen
der gegenwärtigen Situation, nicht durch identische Wiederholung, nicht durch eine
das Gegenwärtige ignorierende Anknüpfung, als ob es, so wie es vergangen ist, gerade
heute noch wirklich und wahr sei. Aber mit den Wandlungen der gesamten menschli-
chen Situation bleibt ein tief Verborgenes, Inneres, das dasselbe ist, seitdem Menschen
philosophieren. Aufzeigungen dessen, was neu sei und damals noch nicht war, treffen
zumeist nur Ausdrucksformen, geschichtlich bestimmte Antriebe, Wege des Zugangs,
geschichtliche Gehalte - das Kommende und Gehende, das die unentbehrliche jewei-
lige Form und der Schutz des Unbedingten ist, aber auch die Gestalt des unmittelbar
Liebenswerten. Wie Gott kein werdendes We|sen sein kann, das noch erst zu sich kom-
men muß,209 so ist das Philosophieren seit dem ersten Beginn ein Verbundensein mit
dem Einen durch den suchenden Gedanken des existierenden Menschen, der Anker,
der geworfen ist, und den jeder nur als er selbst wirft. Auch der Größte wirft ihn nicht
für den anderen Menschen.
Kierkegaard und Nietzsche unterscheiden sich von den anderen großen Philosophen
dadurch, daß sie beide mit Bewußtsein die Philosophie selbst umstürzen, der eine, um
zum Glauben an absurde Paradoxie und an das Märtyrerdasein als das allein wahre Le-
ben, der andere, um zur Gottlosigkeit zu kommen. Gemeinsam machen sie deutlich,
was dem Philosophieren dadurch zukommt, daß seine Möglichkeit nicht alle Möglich-
keit des Menschen ist. Denn die Möglichkeit der philosophischen Existenz findet sich
selbst in ihrem reinen Ursprung nur dadurch, daß sie sich vor anderer Wirklichkeit
sieht, die nicht für sie, aber für sich selbst wahr ist: vor der offenbarten Religion1 und vor
der Gottlosigkeit. Dies ihr Andere, der autoritativ gebundene, gehorsame Kirchenglaube
des Kultus wie die Gottlosigkeit, ist auf beiden Seiten Wirklichkeit von weitbeherr-
schendem Ausmaß; beide bezeugen sich in ihrer Wahrheit durch hingebendes Han-
deln, durch verzehrende Leidenschaft, wenn auch beide - wie das Philosophieren sel-
ber - in der Menge sich auflösen zu bequemen Lebensgewohnheiten, unbekümmerter
Gleichgültigkeit und formelhaftem Gerede.
Daß dem Philosophierenden die sich in sich schließende Selbstgenügsamkeit sei-
ner Wahrheit verloren ist, bedeutet zugleich seine Offenheit für das, was nicht er selbst
ist. In der Geschichte finden wir nur bei den philosophierenden Menschen jenes Un-
genügen, jene Bereitschaft zum Hören, und jenes Vor-nichts-Zurückschrecken der Ge-
danken, durch das sie, was auch immer sie gewinnen, es auch wieder über[schreiten,
um der Wahrheit sich zu nähern und sie durch keine Vorwegnahme und Endgültig-
keit zu verschleiern. Ihre Haltung kann wie Unsicherheit aussehen, weil sie nicht dog-
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i Zu vergleichen wäre aus meiner »Philosophie« Bcl. 1, 292ff. über die Beziehung der Philosophie
zur Religion, Wissenschaft, Kunst.
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die Bewahrung der Überlieferung dessen, was die Väter uns sagten, nur durch Ergreifen
der gegenwärtigen Situation, nicht durch identische Wiederholung, nicht durch eine
das Gegenwärtige ignorierende Anknüpfung, als ob es, so wie es vergangen ist, gerade
heute noch wirklich und wahr sei. Aber mit den Wandlungen der gesamten menschli-
chen Situation bleibt ein tief Verborgenes, Inneres, das dasselbe ist, seitdem Menschen
philosophieren. Aufzeigungen dessen, was neu sei und damals noch nicht war, treffen
zumeist nur Ausdrucksformen, geschichtlich bestimmte Antriebe, Wege des Zugangs,
geschichtliche Gehalte - das Kommende und Gehende, das die unentbehrliche jewei-
lige Form und der Schutz des Unbedingten ist, aber auch die Gestalt des unmittelbar
Liebenswerten. Wie Gott kein werdendes We|sen sein kann, das noch erst zu sich kom-
men muß,209 so ist das Philosophieren seit dem ersten Beginn ein Verbundensein mit
dem Einen durch den suchenden Gedanken des existierenden Menschen, der Anker,
der geworfen ist, und den jeder nur als er selbst wirft. Auch der Größte wirft ihn nicht
für den anderen Menschen.
Kierkegaard und Nietzsche unterscheiden sich von den anderen großen Philosophen
dadurch, daß sie beide mit Bewußtsein die Philosophie selbst umstürzen, der eine, um
zum Glauben an absurde Paradoxie und an das Märtyrerdasein als das allein wahre Le-
ben, der andere, um zur Gottlosigkeit zu kommen. Gemeinsam machen sie deutlich,
was dem Philosophieren dadurch zukommt, daß seine Möglichkeit nicht alle Möglich-
keit des Menschen ist. Denn die Möglichkeit der philosophischen Existenz findet sich
selbst in ihrem reinen Ursprung nur dadurch, daß sie sich vor anderer Wirklichkeit
sieht, die nicht für sie, aber für sich selbst wahr ist: vor der offenbarten Religion1 und vor
der Gottlosigkeit. Dies ihr Andere, der autoritativ gebundene, gehorsame Kirchenglaube
des Kultus wie die Gottlosigkeit, ist auf beiden Seiten Wirklichkeit von weitbeherr-
schendem Ausmaß; beide bezeugen sich in ihrer Wahrheit durch hingebendes Han-
deln, durch verzehrende Leidenschaft, wenn auch beide - wie das Philosophieren sel-
ber - in der Menge sich auflösen zu bequemen Lebensgewohnheiten, unbekümmerter
Gleichgültigkeit und formelhaftem Gerede.
Daß dem Philosophierenden die sich in sich schließende Selbstgenügsamkeit sei-
ner Wahrheit verloren ist, bedeutet zugleich seine Offenheit für das, was nicht er selbst
ist. In der Geschichte finden wir nur bei den philosophierenden Menschen jenes Un-
genügen, jene Bereitschaft zum Hören, und jenes Vor-nichts-Zurückschrecken der Ge-
danken, durch das sie, was auch immer sie gewinnen, es auch wieder über[schreiten,
um der Wahrheit sich zu nähern und sie durch keine Vorwegnahme und Endgültig-
keit zu verschleiern. Ihre Haltung kann wie Unsicherheit aussehen, weil sie nicht dog-
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i Zu vergleichen wäre aus meiner »Philosophie« Bcl. 1, 292ff. über die Beziehung der Philosophie
zur Religion, Wissenschaft, Kunst.
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