Die Möglichkeiten gegenwärtigen Philosophierens
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des Wahren auf dem Wege des Denkens aus dem ganzen Wesen des Menschen. Es ist
nur vergleichbar dem Gebet der Religion, aber zugleich weniger als Gebet, weil ohne
bestimmte Antwort einer persönlichen Gottheit, und mehr als Gebet, weil das hori-
zontlose Innesein aller Möglichkeiten des Umgreifenden und ihrer jeweils geschicht-
lich unbedingten Erfüllung in eigener Existenz. Nur diese ist die zur Philosophie gehö-
rende Erfüllung.
Das Denken der Philosophie kann jedoch ganz anders | seine Erfüllung in der pries-
terlichen Religion selbst finden und sinkt dann zur praeambula fidei herab, in dieser
unmerklich den eigenen Ursprung noch lange trotz jener fremden Erfüllung bewah-
rend, die an sich das Philosophieren rückläufig zu bloßer Begriffsschematik auszudör-
ren tendiert.
Das philosophische Denken kann andererseits seine Erfüllung finden in der Gott-
losigkeit, die sich als Konsequenz des gegen Offenbarungsreligion stehenden Philo-
sophierens ausgibt, und dann rückläufig das Philosophieren als solches aufzuheben
tendiert zugunsten ihres endlichen Wissens in der Welt; diese Gottlosigkeit aber ver-
wendet das Philosophieren, seines Wesens beraubt, doch noch als zersetzende Macht
gegen alles Bestehende, Autoritative, sofern dieses nicht die von der Gottlosigkeit
selbst gewollte Gewalt der Übermacht im Dasein ist.
Das Philosophieren, das seinem Ursprung treu bleibt, kann weder Offenbarungsre-
ligion noch Gottlosigkeit eigentlich verstehen. Beide, sofern sie denken, scheinen ihre
Gedankengänge in Begrifflichkeiten zu vollziehen, die denen des Philosophierens ana-
log und zumeist sogar der Philosophie entlehnt scheinen. Aber beide müssen ein dem
seinen offenbar wesentlich verschiedenes inneres Handeln vollzieh[e]n. Der Philoso-
phierende ist von dem Nichtverstandenen doch betroffen als von etwas, das ihn ent-
scheidend angeht. Er versteht es nicht, weil man, um es zu verstehen, es selber sein
muß. Der Philosophierende kann nicht wissen, ob er nicht eines Tages seinen Weg ver-
rät und betend in die Knie sinkt, oder ob er eines Tages sich der Welt preisgibt in der
Gottlosigkeit des: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt213 -; wenn er auch beides als etwas an-
sehen muß, das wie der Selbstmord seines ewig transzendent gebundenen Wesens wäre.
Im Nichtverstehen oder im Treffen auf bloße Abgleitungen scheint ihm wohl, daß die
Offenbarungsreli|gion einen salto mortale in eine Unzulänglichkeit mache, von der
her die Philosophie selbst unwesentlich werden muß; die Gottlosigkeit dagegen scheint
ihm abenteuerliche Behauptungen über den Weltlauf, gedankenlosen Aberglauben,
unbegriffene Ersatzbildungen der Religion hervorzubringen, so daß ihm diese Gottlo-
sigkeit in ihrem Fanatismus der kämpfenden intoleranten Kirchenreligion verwandter
scheint als der Philosophie.
Philosophie bleibt ständig im Angesicht dieser beiden andern Glaubensweisen, in
die sie sich nicht verwandeln kann, ohne den eigenen Ursprung aufzugeben, die sie
aber ebensowenig als gleichgültig und unwahr ignorieren kann, ohne ihr eigenes Le-
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des Wahren auf dem Wege des Denkens aus dem ganzen Wesen des Menschen. Es ist
nur vergleichbar dem Gebet der Religion, aber zugleich weniger als Gebet, weil ohne
bestimmte Antwort einer persönlichen Gottheit, und mehr als Gebet, weil das hori-
zontlose Innesein aller Möglichkeiten des Umgreifenden und ihrer jeweils geschicht-
lich unbedingten Erfüllung in eigener Existenz. Nur diese ist die zur Philosophie gehö-
rende Erfüllung.
Das Denken der Philosophie kann jedoch ganz anders | seine Erfüllung in der pries-
terlichen Religion selbst finden und sinkt dann zur praeambula fidei herab, in dieser
unmerklich den eigenen Ursprung noch lange trotz jener fremden Erfüllung bewah-
rend, die an sich das Philosophieren rückläufig zu bloßer Begriffsschematik auszudör-
ren tendiert.
Das philosophische Denken kann andererseits seine Erfüllung finden in der Gott-
losigkeit, die sich als Konsequenz des gegen Offenbarungsreligion stehenden Philo-
sophierens ausgibt, und dann rückläufig das Philosophieren als solches aufzuheben
tendiert zugunsten ihres endlichen Wissens in der Welt; diese Gottlosigkeit aber ver-
wendet das Philosophieren, seines Wesens beraubt, doch noch als zersetzende Macht
gegen alles Bestehende, Autoritative, sofern dieses nicht die von der Gottlosigkeit
selbst gewollte Gewalt der Übermacht im Dasein ist.
Das Philosophieren, das seinem Ursprung treu bleibt, kann weder Offenbarungsre-
ligion noch Gottlosigkeit eigentlich verstehen. Beide, sofern sie denken, scheinen ihre
Gedankengänge in Begrifflichkeiten zu vollziehen, die denen des Philosophierens ana-
log und zumeist sogar der Philosophie entlehnt scheinen. Aber beide müssen ein dem
seinen offenbar wesentlich verschiedenes inneres Handeln vollzieh[e]n. Der Philoso-
phierende ist von dem Nichtverstandenen doch betroffen als von etwas, das ihn ent-
scheidend angeht. Er versteht es nicht, weil man, um es zu verstehen, es selber sein
muß. Der Philosophierende kann nicht wissen, ob er nicht eines Tages seinen Weg ver-
rät und betend in die Knie sinkt, oder ob er eines Tages sich der Welt preisgibt in der
Gottlosigkeit des: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt213 -; wenn er auch beides als etwas an-
sehen muß, das wie der Selbstmord seines ewig transzendent gebundenen Wesens wäre.
Im Nichtverstehen oder im Treffen auf bloße Abgleitungen scheint ihm wohl, daß die
Offenbarungsreli|gion einen salto mortale in eine Unzulänglichkeit mache, von der
her die Philosophie selbst unwesentlich werden muß; die Gottlosigkeit dagegen scheint
ihm abenteuerliche Behauptungen über den Weltlauf, gedankenlosen Aberglauben,
unbegriffene Ersatzbildungen der Religion hervorzubringen, so daß ihm diese Gottlo-
sigkeit in ihrem Fanatismus der kämpfenden intoleranten Kirchenreligion verwandter
scheint als der Philosophie.
Philosophie bleibt ständig im Angesicht dieser beiden andern Glaubensweisen, in
die sie sich nicht verwandeln kann, ohne den eigenen Ursprung aufzugeben, die sie
aber ebensowenig als gleichgültig und unwahr ignorieren kann, ohne ihr eigenes Le-
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