Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0156
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Möglichkeiten gegenwärtigen Philosophierens

95

sophieren in | einem Ursprung wurzelt, der jede seiner Gestalten mit jeder anderen
verwandt macht.
Ist das Philosophieren die ständige Selbsterziehung des Menschen als Einzelnen,
so ist dieser darin nicht ein Einzelner als Individuum in der objektiven Mannigfaltig-
keit des endlos verschiedenen Daseins, sondern als der Prozeß der Überwindung dieser
Vereinzelung, die als solche nur zu Eigensinn und Eigenwilligkeit des Individuellen
führt. Das scheinbar Nahe des individuellen Daseins ist für die philosophische Exis-
tenz das ihr vernichtend Entgegengesetzte, das doch ihr geschichtlicher Leib werden
kann, wenn es eingeschmolzen ist in das Umgreifende des einen Seins.
Der Einzelne ist auch nicht er selbst durch Un terscheidung von allen Anderen, durch ein
Mehr an Begabung, Schöpferkraft, Schönheit, Willen216, sondern als der Einzelne, als der
ein Jeder er selbst sein kann und der niemand von Natur schon ist. Er ist es aber auch nicht
in der Gleichheit mit jedem Anderen; denn die Gleichheit kommt aus dem Vergleich. Der
Einzelne, der, wenn er er selbst ist, wie jedes andere Selbstsein ohne Vergleich ist, ist da-
her als solcher dadurch gekennzeichnet, daß er auch selbst sich nicht vergleicht - außer
mit Ideen als Maßstäben, die über ihm, aber nicht wirklich Dasein sind. Wo der Ein-
zelne sich vergleicht, da nur in dem, was nicht eigentlich er selbst ist. Der Einzelne vor
seiner Transzendenz, in welcher Stellung der Mensch allein Mensch ist, erringt sich ge-
gen das Verlorensein seines Grundes an das Allgemeine ebenso wie gegen das Verloren-
sein an die trotzige Selbstbehauptung und Daseinsangst seiner bloßen Vereinzelung. -
Hat der philosophische Glaube zur existentiellen Achse das innere Handeln, so die-
nen der Möglichkeit, diesen Glauben zu vollziehen, die Gedanken der philosophie-
renden Erhellung.
Dieses Philosophieren wird eine um so stärkere Kraft | haben, als es im Formalen
seine Wahrheit rein auszusprechen vermag. Dadurch hat es, weil offen für die Erfül-
lung durch den neu herankommenden Menschen in seiner Geschichtlichkeit, erwe-
ckende Macht, nicht die gebende Macht, welche vielmehr täuschen würde. Wie im
Philosophieren Kants und zurück aller Großen, ist die reine Form des Gedankens das
eigentlich Verwandelnde in dem, der sie zu denken und zu erfüllen vermag. -
Ist das glaubend erfüllende Philosophieren erst durch die Wirklichkeit der Existenz,
so ist in dieser selbst auch der Vollzug der echten Kontemplation: diese ist das Philoso-
phieren als ein Leben der Existenz im Ergrübeln des Seins, im Lesen der Chiffreschrift
des Daseins und aller Weisen des mir begegnenden und des ich selbst seienden Seins.
Es ist die gleichsam aus der Zeit tretende, die Zeit selbst noch als Chiffre in der Erschei-
nung sehende Versenkung.
Die philosophischen Gedanken, deren Vollzug die Wirklichkeit dieser Versenkung
ist, - und die davon losgelöst als nur gesagte Gedanken leer sind - sind gleichsam die
Musik der Spekulation.217 In ihnen ist es wie eine Umwendung existenzerhellenden
Denkens des Möglichen zu einem Treffen auf das Wirkliche, - wie ein Starstechen,218

144





145 ♦




 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften