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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0169
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Io8 Existenzphilosophie

Weile noch zur Fortsetzung spezialistischer Erkenntnisse fähig, geben doch die Wis-
senschaft im ganzen preis, sobald sie ohne Philosophie ratlos geworden sind.
Wenn nun einerseits Philosophie und Wissenschaft ohne einander nicht möglich
sind, wenn andrerseits die trübe Mischung nicht mehr bleiben kann, so ist die Aufgabe
heute, die wahre Einheit beider nach der Scheidung zu verwirklichen. Das Philoso-
9 phieren kann mit dem wissenschaftlichen Denken weder identisch noch ihm entge-
gengesetzt sein.
Zweitens bringen allein die Wissenschaften, welche forschen und damit zwingende
Erkenntnis von Gegenständen liefern, vor den Tatbestand der Erscheinungen; mit ih-
nen erst lerne ich überall klar zu wissen: so ist es. Mangelte ihm die Gegenwärtigkeit in
den Wissenschaften, so bliebe der Philosophierende ohne helle Welterkenntnis, wie
blind.
Drittens muß das Philosophieren, das ja nicht Schwärmerei sondern Wahrheitssu-
chen ist, die wissenschaftliche Haltung oder Denkungsart in sich aufnehmen. Der wis-
senschaftlichen Haltung ist charakteristisch einmal das ständige Unterscheiden des
zwingend Gewußten, - das Wissen mit dem Wissen des Weges, der zu ihm führte, -
und das Wissen mit Wissen der Grenzen des Sinnes, in denen es gilt. Wissenschaftli-
che Haltung ist weiter die Bereitschaft des Forschers zur Hinnahme jeder Kritik an sei-
nen Aufstellungen. Für den Forscher ist Kritik Lebensbedingung. Er kann nicht genug
in Frage gestellt werden, um daran seine Einsicht zu prüfen. Noch die Erfahrung un-
berechtigter Kritik wirkt auf einen echten Forscher produktiv. Wer sich der Kritik ent-
zieht, will nicht eigentlich wissen. - Verlust der wissenschaftlichen Haltung und Den-
kungsart ist zugleich Verlust der Wahrhaftigkeit des Philosophierens. -
Alles wirkt zusammen, daß Philosophie sich an Wissenschaft bindet. Philosophie er-
greift die Wissenschaften so, daß deren eigener Sinn wirklich gegenwärtig wird. In den
Wissenschaften mitlebend zersetzt Philosophie den in den Wissenschaften immer
wieder wachsenden Dogmatismus (diese unklare Ersatzphilosophie). Sie wird vor al-
lem aber zum bewußten Garanten der Wissenschaftlichkeit gegen die Wissenschafts-
feindschaft. Philosophisch leben, ist untrennbar von der Gesinnung, die die Wissen-
schaft ohne Einschränkung will.
io | Zugleich mit dieser Klärung der Grenzen und des Sinns der Wissenschaften erwuchs
die Unabhängigkeit des philosophischen Ursprungs. Erst dadurch, daß er, im hellen Raum
der Wissenschaften bei jeder vorschnellen Behauptung der kritischen Schärfe dieses
Lichts ausgesetzt, doch seiner Eigenständigkeit inne wurde, wurde auch die eine uralte
Philosophie in ihren großen Erscheinungen wieder sprechend. Es war, als ob längstbe-
kannte Texte aus einer Verborgenheit wieder an den Tag kämen, als ob man sie jetzt
mit neuen Augen erst wahrhaft lesen lerne. Es waren Kant, Hegel, Schelling, Nikolaus
von Kues, Anselm, Plotin, Plato und wenige andere so neu gegenwärtig, daß man die
 
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