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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0185
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124

Existenzphilosophie

Im Bewußtsein überhaupt ist das Hinreißende der zwingenden Richtigkeit und das
Nichtertragen, daher Verwerfen der Unrichtigkeit. Beiden gegenüber erwächst die Öde
des Richtigen, weil Endlosen und an sich Unwesentlichen.
Im Geiste ist die tiefe Befriedigung im Ganzen und die Qual der ständigen Unvoll-
endung. Beiden gegenüber erwächst das Ungenügen an der Harmonie wie die Ratlosig-
keit vor dem Bruche der Ganzheiten.
34 | In der Existenz ist der Glaube und ist die Verzweiflung. Beiden gegenüber steht das
Verlangen zur Ruhe der Ewigkeit, wo Verzweiflung unmöglich und Glaube Schauen,
d.h. vollendete Gegenwart der vollendeten Wirklichkeit selbst geworden ist. -
Wie wir bisher die Weisen des Wahrheitssinnes erörterten, stehen sie nebeneinander
und nirgends finden wir die Wahrheit selbst.
Aber die Weisen des Wahrheitssinnes sind keineswegs ein beziehungsloses Aggre-
gat. Sie stehen in Konflikten: in möglichen gegenseitigen Vergewaltigungen. Jede Wahr-
heit gerät in Unwahrheit, wo sie gegen ihren eigenen Sinnzusammenhang in Abhän-
gigkeit von anderer Wahrheit gerät, sich von ihr Umbiegung gefallen läßt.
Ein Beispiel muß genügen: Es ist die Frage, wieweit die Wahrheit des Bewußtseins
überhaupt - die zwingende Gewißheit im Wissen von allem Erfahrbaren - für Dasein
nützlich, d.h. also für das Dasein wahr ist. Wäre das Wissen dieser allgemeingültigen
Wahrheit in seiner Wirkung stets auch das Gute im Sinne des Daseins, so wäre, weil
kein möglicher Konflikt, auch keine Scheidung zwischen Daseinswahrheit und Wahr-
heit des allgemeingültigen Erkennens. In der Tat jedoch verfehlt Dasein ständig gegen
die allgemeingültige Wahrheit: es verschleiert, verdrängt, unterdrückt sie. Es ist keines-
wegs eindeutig, ob dadurch auf die Dauer eine Förderung des Daseins bewirkt wird,
oder ob schließlich das Verderben des Daseins daraus entspringt. Jedenfalls bedeutet
die restlose Ergreifung und Mitteilung der Wahrheit des allgemeingültigen Erkennens
zunächst fast jederzeit auch Bedrohung des eigenen Daseins: Die Wahrheit des zwin-
gend Richtigen wird Unwahrheit im Dasein. Die Wahrheit kann in einem sich iso-
lierenden Daseinswillen als das zu verwerfende Verhängnis erscheinen. Umgekehrt
35 werden Daseins[Interessen zur Quelle der Unwahrheit, indem sie im Medium des Be-
wußtseins überhaupt mir vorgaukeln, was ich möchte, daß es sei.
Durch die Konflikte wird uns das Spezifische des einzelnen Wahrheitssinnes fühl-
bar - und in jedem Konflikt begreifen wir eine eigentümliche Quelle möglicher Un-
wahrheit.250 Suchen wir nun diese Konflikte zu überwinden, suchen wir die Wahrheit
selbst, so finden wir sie keineswegs, indem wir einer Weise des Umgreifenden als der ei-
gentlichen Wahrheit den Vorrang geben. Abwechselnd neigen wir zu den Vorurteilen,
die ein Umgreifendes verabsolutieren: so das Dasein: als ob das Lebenfördernde das
Letzte sei und sich schlechthin unbedingt nehmen könne; so das Bewußtsein überhaupt,
den Verstand: als ob im richtig Gewußten das Sein selbst in Besitz zu nehmen wäre und
 
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