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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0188
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Wahrheit

127

an der Grenze der Wege, aus der Situation des Nichtallgemeinen das Allgemeine er-
hellend.
Ausnahme kann sich mitteilen; damit tritt sie ständig in das Allgemeine zurück.
Wäre sie sich einer Wahrheit gewiß, die schlechthin unmitteilbar ist, so wäre sie Wahr-
heit, an der niemand teilnehmen kann. Die Ausnahme wäre, als ob sie gar nicht wäre.
Denn ihre Mitteilbarkeit ist Bedingung dafür, daß sie für uns da ist.
Fragen wir nun zusammenfassend, was denn Ausnahme sei, die philosophische
Geltung für uns hat, so entgleitet sie uns. Ausnahme ist keine Kategorie eines Soseins,
vermöge der ich einen Menschen bestimmen könnte. Das Wort will den Begriff einer
Möglichkeit treffen, die ein Ursprung des Wahrseins, hindurchgreifend durch alle Wei-
sen des Umgreifenden, ist und sich der Bestimmbarkeit schlechthin entzieht. Sie ist
wie ein Umgreifendes | alles Umgreifenden, aber nicht absolut als es selbst, sondern in 39
geschichtlicher Konkretion an uns herantretend und im Erhellen zugleich uns ab-
stoßend, uns auf uns zurückweisend. Daher ist sie als Ganzes weder gegenständlich zu
übersehen, noch objektiv zu unterscheiden, noch als Ausgang einer Rechtfertigung zu
benutzen. Sie ist sichtbar durch den erfahrenen Stoß ihrer Wahrheit an unsere Wahr-
haftigkeit und zugleich unsichtbar, wenn ich mit ihr wie einem Gewußten rechnen
will. Alles objektiv Gewordene der Ausnahme ist uns wie ihr zweideutig.
Fragen wir schließlich, wer denn Ausnahme sei und wer nicht, so muß die Antwort
lauten: Die Ausnahme ist nicht nur ein seltenes Vorkommnis an der Grenze - dieses in
den äußersten und erschütterndsten Gestalten, wie Sokrates - sondern das allgegen-
wärtige jeder möglichen Existenz. Denn die Geschichtlichkeit als solche schließt das
Ausnahmesein in sich, das dem Allgemeinen unlösbar eines geworden ist. Die Wahr-
heit der Existenz hat den Charakter, durch die Gestalt aller Weisen des Allgemeinen
hindurch jederzeit auch Ausnahme zu sein.
Daher ist die echte Ausnahme nicht willkürliche Ausnahme, die ein bloßer Abfall
wäre, sondern das der Wahrheit des Umgreifenden im Zeitdasein unlösbar Zugehö-
rende. Was im Äußersten zunächst als das Fremdeste, daher als Ausnahme angespro-
chen wurde, das sind wir selbst, ist jeder, sofern er geschichtlich wirklich ist, und ist
niemand, sofern jede wahre Ausnahme in bezug auf das Allgemeine steht, das sie er-
hellt. Alles Ergreifen der Wahrheit ist aus der Offenheit für die Ausnahme, aus dem
Blick auf die Ausnahme, aber so, daß der Ergreifende nicht Ausnahme sein will. Er be-
scheidet sich als Ausnahme, sich beugend unter das Allgemeine; er bescheidet sich als
das Allgemeine, sich gering wissend vor dem Opfer, das die Ausnahme vollzieht.
|In den Grund der Wahrheit dringend, die aus konkreter Wirklichkeit an uns heran- 40
tritt, begegnen uns Ausnahme und Autorität. Ausnahme ist das Infragestellende, das
Erschreckende und das Faszinierende, Autorität ist die Fülle des mich Tragenden, das
Bergende und das Beruhigende.
 
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