132
Existenzphilosophie
Wenn man sich der Wahrheit als rationaler Wißbarkeit in Gestalt konkreter Wissen-
schaft anvertraut hat, - wenn man dann weiter den Wahrheitssinn aus den Weisen des
Umgreifenden, den man faktisch schon lebte, auch vergegenwärtigt hat, - wenn man
schließlich die Gestalt der Wahrheit in der Ausnahme und in der Autorität erblickt hat,
so sind das Schritte der Rückkehr zur Wirklichkeit.
Aber philosophisch ist in der Erschütterung durch die Ausnahme und in der Ruhe
durch die Autorität nicht das Letzte erreicht.
Fraglos in der Autorität zu leben, ist verwehrt, wem das Philosophieren einmal
wirklich geworden ist. Es ist ein Anderes, in der Autorität zu leben, und ein Anderes,
sie zu erdenken und denkend auf sie hinzuführen. Lebe ich in ihr, so ist die Wahrheit
in schlichter Einfachheit; erdenke ich sie aber, so ist sie unendlich verwickelt: wenn
die Autorität in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit rational zureichend ausgesagt wer-
den soll, so tut keine rationale Analyse ihr genug. Durch das Reifen des Philosophie-
47 rens | ist jedoch mit dem Leben in der Autorität das Denken unlösbar verbunden.
Dieses Philosophieren kann nicht die Autorität ableiten. Daß ich der Autorität
glaube, ist Ursprung in der Gesamtheit des Umgreifenden; ob ich ihr glauben soll, kann
ich nie begründen. Die Erhellung der Autorität überhaupt ist niemals die Begründung
einer geschichtlich bestimmten konkreten Autorität.
Das philosophische Denken verstummt noch nicht vor Ausnahme und Autorität. Es
tritt zwar nicht das Paradoxe ein, daß Autorität der Begründung bedürfte, da doch jede
Begründung der Autorität schon durch das Begründen sie als Autorität aufheben
würde. Aber das philosophische Denken zersetzt nicht nur die unwahr werdenden Ab-
gleitungen, sondern bringt vielleicht das aus dem Ursprung Kommende zu reinster
und hellster Gegenwart.
Der Weg, der auch vor Ausnahme und Autorität nicht aufhört, sondern in sie ein-
dringt - der Weg philosophischer Wahrheit - heißt Vernunft. Statt die Wahrheit in ir-
gendeiner der bisher erörterten Gestalten endgültig zu besitzen und statt Wahrheit in
ihrem Inhalt gradezu zu zeigen, sprechen wir am Ende von der Vernunft.
Was Vernunft sei, zu vollziehen und darum zu wissen, ist die eigentlich philosophi-
sche Aufgabe, von jeher und für immer.
Der Grundzug der Vernunft ist der Wille zur Einheit. Aber die Schwungkraft liegt in der
Frage, was diese Einheit sei. Daß sie als wirkliche, eine und einzige Einheit, nicht als
48 eine Einheit, die noch anderes außer sich hat, ergriffen | werde, entscheidet über die
i Verstand und Vernunft haben deutsche Philosophen längst radikal unterschieden. Aber die Schei-
dung ist nicht in das allgemeine Bewußtsein der Sprache eingedrungen. Dem Worte Vernunft ist
noch immer sein tiefer Sinn wieder zurückzugewinnen.
Existenzphilosophie
Wenn man sich der Wahrheit als rationaler Wißbarkeit in Gestalt konkreter Wissen-
schaft anvertraut hat, - wenn man dann weiter den Wahrheitssinn aus den Weisen des
Umgreifenden, den man faktisch schon lebte, auch vergegenwärtigt hat, - wenn man
schließlich die Gestalt der Wahrheit in der Ausnahme und in der Autorität erblickt hat,
so sind das Schritte der Rückkehr zur Wirklichkeit.
Aber philosophisch ist in der Erschütterung durch die Ausnahme und in der Ruhe
durch die Autorität nicht das Letzte erreicht.
Fraglos in der Autorität zu leben, ist verwehrt, wem das Philosophieren einmal
wirklich geworden ist. Es ist ein Anderes, in der Autorität zu leben, und ein Anderes,
sie zu erdenken und denkend auf sie hinzuführen. Lebe ich in ihr, so ist die Wahrheit
in schlichter Einfachheit; erdenke ich sie aber, so ist sie unendlich verwickelt: wenn
die Autorität in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit rational zureichend ausgesagt wer-
den soll, so tut keine rationale Analyse ihr genug. Durch das Reifen des Philosophie-
47 rens | ist jedoch mit dem Leben in der Autorität das Denken unlösbar verbunden.
Dieses Philosophieren kann nicht die Autorität ableiten. Daß ich der Autorität
glaube, ist Ursprung in der Gesamtheit des Umgreifenden; ob ich ihr glauben soll, kann
ich nie begründen. Die Erhellung der Autorität überhaupt ist niemals die Begründung
einer geschichtlich bestimmten konkreten Autorität.
Das philosophische Denken verstummt noch nicht vor Ausnahme und Autorität. Es
tritt zwar nicht das Paradoxe ein, daß Autorität der Begründung bedürfte, da doch jede
Begründung der Autorität schon durch das Begründen sie als Autorität aufheben
würde. Aber das philosophische Denken zersetzt nicht nur die unwahr werdenden Ab-
gleitungen, sondern bringt vielleicht das aus dem Ursprung Kommende zu reinster
und hellster Gegenwart.
Der Weg, der auch vor Ausnahme und Autorität nicht aufhört, sondern in sie ein-
dringt - der Weg philosophischer Wahrheit - heißt Vernunft. Statt die Wahrheit in ir-
gendeiner der bisher erörterten Gestalten endgültig zu besitzen und statt Wahrheit in
ihrem Inhalt gradezu zu zeigen, sprechen wir am Ende von der Vernunft.
Was Vernunft sei, zu vollziehen und darum zu wissen, ist die eigentlich philosophi-
sche Aufgabe, von jeher und für immer.
Der Grundzug der Vernunft ist der Wille zur Einheit. Aber die Schwungkraft liegt in der
Frage, was diese Einheit sei. Daß sie als wirkliche, eine und einzige Einheit, nicht als
48 eine Einheit, die noch anderes außer sich hat, ergriffen | werde, entscheidet über die
i Verstand und Vernunft haben deutsche Philosophen längst radikal unterschieden. Aber die Schei-
dung ist nicht in das allgemeine Bewußtsein der Sprache eingedrungen. Dem Worte Vernunft ist
noch immer sein tiefer Sinn wieder zurückzugewinnen.