Wirklichkeit
139
usw.), dann heute auch die Subjektivität von Tastbarkeit, von Raum und Zeit. Das physi-
kalisch Wirkliche ist fremd und fremder geworden: Zuerst wurde es das nicht mehr sub-
jektbezogene unperspektivisch Gedachte Im-Raum-Sein der Körper; dann das zugrunde
liegende räumliche Sein atomarer, an Größe und Bewegung nur quantitativ verschiede-
ner Massenteilchen; nun zuletzt wurde es auch noch unvorstellbar und bleibt nur zu er-
fassen in mathematischen Formeln. Wenn damit eine abgründig ferne, nur in Meßbar-
keiten sich kundgebende Wirklichkeit erkannt wurde, so wurde zugleich unbegreiflich
das Zustandekommen der »Erscheinung« der Welt für uns. Diese Erscheinung konnte am
Ende nun wieder ganz wirklich für uns werden, aber so, daß nun nirgends »die« | Wirk- 57
lichkeit ist. Alles ist Wirklichkeit auf seine Weise, und Alles ist zugleich nur Perspektive.
Nicht anders geschieht es mit unserem Wissen von dem Dasein des Menschen.
Dessen Wirklichkeit meint man realistisch, sei es in den wirtschaftlichen Tatbe-
ständen, sei es in den diplomatisch-politischen Aktionen, sei es in vielfachen soziolo-
gischen Ordnungen, in geistigen Prinzipien usw. zu fassen. Indem man einzelne Zu-
sammenhänge für die entscheidenden erklärt und das Übrige als daraus abgeleitet, als
Überbau zweitrangig werden läßt, verstrickt man sich in ein Wirklichkeitsbewußtsein,
das durch kritische Erkenntnis alsbald wieder aufgelöst wird. Alle diese erforschbaren
Wirklichkeiten sind unbezweifelbare Faktoren; »die« Wirklichkeit ist mit ihnen aber
auch hier nirgends anzutreffen; das Erforschbare und auch die Summe oder Ordnung
des Erforschbaren ist nie das Ganze.
Wenn mit dem Erwerb bestimmter Erkenntnis die Wirklichkeit gleichsam ständig
zurückweicht, so daß die Frage, was die Wirklichkeit sei, im Prinzip von der kritischen
Forschung nicht beantwortet werden kann, so scheint doch als das Wirkliche der ein-
zelne Tatbestand zu bleiben. Eine Tatsache - so sagt man etwa - sei da oder nicht da.
Hier sei etwas, an dem nicht zu rütteln sei. Die sich widersprechenden Anschauungen,
sogar Feinde, müßten hier etwas anerkennen, das ihnen gemeinsam sei. Was vorhan-
den, was geschehen, was getan ist, das müsse jeweils von irgendjemand gewußt wer-
den oder müsse doch wißbar sein. Aber das ist ein Irrtum. Erstens zeigt sich die End-
losigkeit jedes faktischen Individuellen und zweitens die grenzenlose Deutbarkeit und
Umdeutbarkeit jedes Tatbestandes. Wenn man einen Tatbestand bestimmt auffassen
will, muß man ihn schon konstruieren. »Alles Tatsächliche ist schon Theorie«255. End-
losigkeit und Umdeutbarkeit jeder einzelnen Tatsache bleiben, auch dann, wenn alles
bloß Täuschende, die offensichtliche | Falschheit, die Verdunkelung, das Verschwel- 58
gen und Vertuschen überwunden werden.
Immer, ob ich das Wirkliche im Ganzen oder als die einzelne Tatsache ergreifen
will, - am Ende ist das Wirkliche die unerreichbare Grenze der methodischen Forschung.
Auf dem zweiten Weg - dem Tun - suchen wir das Wirkliche als das eigene Sein.
Unser Dasein als solches läßt uns unbefriedigt in seinem ständigen Drang nach
mehr, der endlos, ohne Endzweck, sich umso sinnloser weiß, als er sein Ende gewiß vor
139
usw.), dann heute auch die Subjektivität von Tastbarkeit, von Raum und Zeit. Das physi-
kalisch Wirkliche ist fremd und fremder geworden: Zuerst wurde es das nicht mehr sub-
jektbezogene unperspektivisch Gedachte Im-Raum-Sein der Körper; dann das zugrunde
liegende räumliche Sein atomarer, an Größe und Bewegung nur quantitativ verschiede-
ner Massenteilchen; nun zuletzt wurde es auch noch unvorstellbar und bleibt nur zu er-
fassen in mathematischen Formeln. Wenn damit eine abgründig ferne, nur in Meßbar-
keiten sich kundgebende Wirklichkeit erkannt wurde, so wurde zugleich unbegreiflich
das Zustandekommen der »Erscheinung« der Welt für uns. Diese Erscheinung konnte am
Ende nun wieder ganz wirklich für uns werden, aber so, daß nun nirgends »die« | Wirk- 57
lichkeit ist. Alles ist Wirklichkeit auf seine Weise, und Alles ist zugleich nur Perspektive.
Nicht anders geschieht es mit unserem Wissen von dem Dasein des Menschen.
Dessen Wirklichkeit meint man realistisch, sei es in den wirtschaftlichen Tatbe-
ständen, sei es in den diplomatisch-politischen Aktionen, sei es in vielfachen soziolo-
gischen Ordnungen, in geistigen Prinzipien usw. zu fassen. Indem man einzelne Zu-
sammenhänge für die entscheidenden erklärt und das Übrige als daraus abgeleitet, als
Überbau zweitrangig werden läßt, verstrickt man sich in ein Wirklichkeitsbewußtsein,
das durch kritische Erkenntnis alsbald wieder aufgelöst wird. Alle diese erforschbaren
Wirklichkeiten sind unbezweifelbare Faktoren; »die« Wirklichkeit ist mit ihnen aber
auch hier nirgends anzutreffen; das Erforschbare und auch die Summe oder Ordnung
des Erforschbaren ist nie das Ganze.
Wenn mit dem Erwerb bestimmter Erkenntnis die Wirklichkeit gleichsam ständig
zurückweicht, so daß die Frage, was die Wirklichkeit sei, im Prinzip von der kritischen
Forschung nicht beantwortet werden kann, so scheint doch als das Wirkliche der ein-
zelne Tatbestand zu bleiben. Eine Tatsache - so sagt man etwa - sei da oder nicht da.
Hier sei etwas, an dem nicht zu rütteln sei. Die sich widersprechenden Anschauungen,
sogar Feinde, müßten hier etwas anerkennen, das ihnen gemeinsam sei. Was vorhan-
den, was geschehen, was getan ist, das müsse jeweils von irgendjemand gewußt wer-
den oder müsse doch wißbar sein. Aber das ist ein Irrtum. Erstens zeigt sich die End-
losigkeit jedes faktischen Individuellen und zweitens die grenzenlose Deutbarkeit und
Umdeutbarkeit jedes Tatbestandes. Wenn man einen Tatbestand bestimmt auffassen
will, muß man ihn schon konstruieren. »Alles Tatsächliche ist schon Theorie«255. End-
losigkeit und Umdeutbarkeit jeder einzelnen Tatsache bleiben, auch dann, wenn alles
bloß Täuschende, die offensichtliche | Falschheit, die Verdunkelung, das Verschwel- 58
gen und Vertuschen überwunden werden.
Immer, ob ich das Wirkliche im Ganzen oder als die einzelne Tatsache ergreifen
will, - am Ende ist das Wirkliche die unerreichbare Grenze der methodischen Forschung.
Auf dem zweiten Weg - dem Tun - suchen wir das Wirkliche als das eigene Sein.
Unser Dasein als solches läßt uns unbefriedigt in seinem ständigen Drang nach
mehr, der endlos, ohne Endzweck, sich umso sinnloser weiß, als er sein Ende gewiß vor