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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0205
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Existenzphilosophie

I. Aller Fortschritt des Erkennens zeigt nur um so entschiedener, daß das Weltsein
für die Erkenntnis nur in Sprüngen der Seinsweisen sich öffnet. Zwischen dem anorgani-
schen Naturgeschehen und dem Leben, zwischen Leben und Bewußtsein, zwischen
Bewußtsein und Geist zeigt sich, je klarer die Erkenntnis wird, ein übergangsloser Ab-
grund - und doch bleibt über alle Sprünge hinweg das Zusammen, bleibt die Einheit
als die wenn auch immer ferner rückende Voraussetzung und Aufgabe des Erkennens.
65 | 2. Die Welt im Ganzen ist für den Menschen nicht als die Eine richtig einzurichten
im Sinne eines endgültigen Bestehens und Dauerns seines Daseins. Jede Verwirkli-
chung seiner Welteinrichtung zeigt alsbald in sich eine Unmöglichkeit, den Keim des
Verderbens dieser Gestalt und das unaufhaltsame Vorandrängen ins Unabsehbare -
und doch drängen wir unaufhörlich auf die eine, zusammenschließende, sich genü-
gende Einrichtung.
3. Wo der Mensch seines Selbstseins als Ursprung inne wird, wird sogleich die Ge-
brochenheit gegenwärtig, erstens durch die Unvollendbarkeit der Verwirklichung die-
ses Selbstseins in einem zur Einheit werdenden Dasein, zweitens durch die Vielfach-
heit der Wahrheit der sich begegnenden Existenzen. Und doch ist der wesentliche Zug
der Existenz selbst, in Kommunikation auf das Eine stoßen zu wollen, das die Fernsten
noch verbindet und dem Alle angehören.
Jede dieser Weisen des Zerrissenseins des Seins ist ein Anspruch an uns, im Zerrisse-
nen nicht schon die Wirklichkeit selbst zu sehen. Der Antrieb unserer Vernunft zur Ein-
heit läßt erst dort eigentliche Wirklichkeit gelten, wo sie nicht in der Zerstreutheit,
nicht in diesen Vordergründen der Vielfachheit, sondern in der Einheit getroffen wird:
der eine Gott, die eine Welt, das eine Ganze des Naturgeschehens, die eine Wahrheit,
die Einheit der Wissenschaften, das geschichtlich Eine in der Welt, wo immer uns et-
was wesentlich ist, sind Forderungen, ohne deren Erfüllung nicht bloß Chaos, son-
dern die Unwirklichkeit des Getrennten hervorzugehen scheint.
Die Einheit zu fassen, geraten wir jedoch ständig in die Irre. So neigen wir zu der Vo-
raussetzung einer verengten Wahrheit als einer (und verabsolutieren damit die zwin-
gende Gültigkeit richtiger Verstandeserkenntnis von endlichen Dingen in der Welt zur
Wahrheit überhaupt); oder wir halten die Welt als ein Ganzes für auf einheitliche Weise
66 erkennbar (und verabsolutieren ein relatives Ganze phy|sikalischer oder biologischer
Erkenntnis zum Ganzen des Seins selbst); oder wir halten unmerklich an der Voraus-
setzung fest, nur eine Weise des Menschseins sei das wahre Ideal des Menschen (und ver-
absolutieren damit eine geschichtliche Gestalt).
Die Einheit ist in der Tat nicht als unmittelbare Gegebenheit, nicht als Wissensin-
halt, nicht als Idee und nicht als Institution geradezu zu erfassen. Jeder Weg, des einen
Seins als eines nur immanenten Seins gewiß zu werden, führt vielmehr auf Brüche,
Sprünge, Unstimmigkeiten, Unvollendbarkeiten. Auch das entschiedenste Innewer-
den unserer selbst erwächst zugleich mit dem Grundwissen, daß wir als mögliche Exis-
 
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