Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0207
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
146

Existenzphilosophie

68 | Rationalisierung das Wirkliche selbst gewußt sei, so ist auch er verkehrt in ein transpa-
renzloses Weltsein eines rationalen Inhalts:
Das Brutale des Faktums ist nicht das möglichkeitslose Wirklichsein. Irgendeinem
Weltsein die Möglichkeit zu nehmen und es dann als diese wißbare Wirklichkeit ab-
solut zu setzen, läßt die Transzendenz verschwinden, die Freiheit erlahmen, über die
Wirklichkeit täuschen.
Die Objektivität des Besonderen in seiner historisch-individuellen Sichtbarkeit ist nicht
die Existenz in ihrer Geschichtlichkeit. Die Geschichtlichkeit als diese Besonderheit
in der historischen Mannigfaltigkeit des Daseienden für die absolute Wirklichkeit zu
halten, läßt die Transzendenz verschwinden im bloßen Eigenwillen.
Die Einheit in einer für uns denkbaren - sei es numerischen, sei es logischen - Ge-
stalt ist nicht die Einheit der unbedingten Wirklichkeit. Eine objektive Einheit in der
Welt, als solche gewußt, objektiviert und gefordert, ist nicht mehr die transzendente
Einheit, sondern ein Verengtes, Abgesondertes, Mechanisches oder Systematisches.
Und doch ist Transzendenz nur da, wo die Möglichkeit aufhört, ist sie in der Zeit
nicht ohne die Geschichtlichkeit, und ist sie nicht ohne die Einheit.
4. Wirklichkeit und Erfahrung der Wirklichkeit sind gar nicht selbstverständlich.
Jeden Augenblick scheint zwar die Gegenwart des Wirklichen möglich, zumeist aber
ist die Wirklichkeit wie verschwunden. Meinungen, Vorstellungen, Gewohnhei-
ten und das vitale Daseinsgefühl sind die unverläßlichen Träger einer Scheinwirk-
lichkeit.
Daher ist der Stoß an die Wirklichkeit stets wie ein Durchbruch durch den Schein, eine
neue, die eigentliche uns tragende Erfahrung.
Diese Erfahrung des Wirklichen gewinne ich nur, indem ich zu mir selbst komme.
69 Transzendenz, im Sinne erfahrbaren Weltseins unhörbar, spricht vernehmlich nur | für
Existenz. Meine eigene Wirklichkeit ist in der Weise, wie ich Wirklichkeit, und was ich
als Wirklichkeit weiß. Die Weise, wie wir das möglichkeitslose Wirkliche berühren, wie
wir es in unserer Geschichtlichkeit und durch sie als Einheit ergreifen, das macht un-
sere Wirklichkeitsnähe aus.
Durch die Verwirklichung der Existenz, nach deren Tiefe, Kraft und Umfang, gibt
es gleichsam Grade der Gegenwärtigkeit und damit der Wirklichkeit, der Nähe und
Ferne zur Transzendenz.
5. In jedem Ungenügen, d.h. überall, wo nicht die Wirklichkeit in ihrer Tiefe gegen-
wärtig ist, erwächst unser Antrieb: Ruhe gewinnt der Mensch nur im Sein, das die Wirk-
lichkeit selbst ist.
Es ist schon eine verwundernde Befriedigung allein darin, daß etwas ist.
Dann aber kommt es darauf an, was ist. Nicht in der leeren Ruhe der Unbetroffen-
heit vom Sosein ist Wirklichkeit fühlbar, sondern erst in der die Betroffenheit vom So-
sein des Wirklichen überwindenden - d.h. in der erworbenen, erfüllten - Ruhe.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften