Existenzphilosophie
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Dies Grundfaktum in seinem Ursprung zu würdigen, hindert uns die gewohnte Al-
ternative, welche nur entweder ein unwirkliches Symbol der Phantasie oder sinnlich-leib-
haftige Wirklichkeit kennt.
In der Tat gibt es beides:
Einerseits die Realisierung zur Sinnlichkeit selbst, wie etwa im auferstandenen
Christus, der durch verschlossene Türen plötzlich vor den Jüngern steht, und in des-
sen Wunden der bis dahin ungläubige Thomas seine Finger legt266 - andererseits das
Verblasensein im ästhetischen Symbol, das unverbindlich den Reiz ausübt ohne reale
Gegenwart, aber in immer anderen Gestalten sich dem Genüsse darbietet aus der gren-
zenlosen Fülle historischer Überlieferung.
Aber beidem gegenüber, vielmehr vor beidem gibt es das Ursprüngliche: Die Wirk-
lichkeit ist nicht auf anderem Wege als dem der glaubenden Wahrnehmung, der glau-
benden Erfahrung zu ergreifen. Sie ist gegenwärtig, aber nur wenn das Selbstsein durch
eigene Wirklichkeit sie wahrnehmen kann.267
Psychologisch handelt es sich um Vorstellungen, mit denen der Glaube die Wirk-
lichkeit trifft. Halte ich mich an diese Vorstellungen und meine ich in ihrer Vergegen-
wärtigung schon den Glaubensinhalt zu gewinnen, so irre ich: es entgeht mir die Wirk-
lichkeit selbst, die im Glauben anwesend ist. Denn dem Glauben kommt es nicht auf
75 | die Vorstellung, sondern auf die Wirklichkeit des Geglaubten an. Wie die Wirklich-
keit der Welt durch die Sinne, so ist die der Transzendenz durch den Glauben - den
philosophischen oder den religiösen - zugänglich, jedesmal als das Andere. Ein irren-
der Idealismus verwandelt die Welt der Sinne ebenso wie die des Glaubens in Schein,
macht sie zu Schöpfungen des Bewußtseins. Aber Philosophie steht vor der Wirklichkeit.
Wo transzendente Wirklichkeit gegenwärtig ist, wird sie daher von keiner Aufklä-
rung zerstört. Die klarste Erforschung der Sinnenwelt kann die echte Wahrnehmbar-
keit der Transzendenz nur steigern, wenn sie die abergläubischen Fixierungen und Ver-
wechslungen zerstört.
In der Religion ist nun, soweit man vom Philosophieren zu sehen vermag, die cha-
rakteristische Neigung, das Transzendente als sinnliche Partikularität - nämlich als
das spezifisch Heilige - in der Welt anzutreffen. Für Philosophie dagegen kann in je-
der Gestalt der Sinnlichkeit und empirischen Wirklichkeit die Wahrnehmung der
Transzendenz geschehen aus dem Ursprung der geschichtlich vielfachen Freiheit als
der Stätte dieser Wahrnehmungsfähigkeit. Grundsätzlich kann alles heilig werden
und ist nichts - allgemeingültig und für alle - ausschließend heilig. Das reale Symbol
der Chiffre scheint sich - mit anderen Worten - in der Religion zur sinnlichen Reali-
tät des Übersinnlichen zu verendlichen - wie es sich in der ästhetischen Anschauung
zur Nichtigkeit bloßen Bedeutens entleert. Die verworfene Alternative tritt unwill-
kürlich wieder auf, wenn von der Philosophie her die religiösen Inhalte in ihrer kulti-
schen, dogmatischen, institutionellen Gestalt erblickt werden. Der Philosophierende
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Dies Grundfaktum in seinem Ursprung zu würdigen, hindert uns die gewohnte Al-
ternative, welche nur entweder ein unwirkliches Symbol der Phantasie oder sinnlich-leib-
haftige Wirklichkeit kennt.
In der Tat gibt es beides:
Einerseits die Realisierung zur Sinnlichkeit selbst, wie etwa im auferstandenen
Christus, der durch verschlossene Türen plötzlich vor den Jüngern steht, und in des-
sen Wunden der bis dahin ungläubige Thomas seine Finger legt266 - andererseits das
Verblasensein im ästhetischen Symbol, das unverbindlich den Reiz ausübt ohne reale
Gegenwart, aber in immer anderen Gestalten sich dem Genüsse darbietet aus der gren-
zenlosen Fülle historischer Überlieferung.
Aber beidem gegenüber, vielmehr vor beidem gibt es das Ursprüngliche: Die Wirk-
lichkeit ist nicht auf anderem Wege als dem der glaubenden Wahrnehmung, der glau-
benden Erfahrung zu ergreifen. Sie ist gegenwärtig, aber nur wenn das Selbstsein durch
eigene Wirklichkeit sie wahrnehmen kann.267
Psychologisch handelt es sich um Vorstellungen, mit denen der Glaube die Wirk-
lichkeit trifft. Halte ich mich an diese Vorstellungen und meine ich in ihrer Vergegen-
wärtigung schon den Glaubensinhalt zu gewinnen, so irre ich: es entgeht mir die Wirk-
lichkeit selbst, die im Glauben anwesend ist. Denn dem Glauben kommt es nicht auf
75 | die Vorstellung, sondern auf die Wirklichkeit des Geglaubten an. Wie die Wirklich-
keit der Welt durch die Sinne, so ist die der Transzendenz durch den Glauben - den
philosophischen oder den religiösen - zugänglich, jedesmal als das Andere. Ein irren-
der Idealismus verwandelt die Welt der Sinne ebenso wie die des Glaubens in Schein,
macht sie zu Schöpfungen des Bewußtseins. Aber Philosophie steht vor der Wirklichkeit.
Wo transzendente Wirklichkeit gegenwärtig ist, wird sie daher von keiner Aufklä-
rung zerstört. Die klarste Erforschung der Sinnenwelt kann die echte Wahrnehmbar-
keit der Transzendenz nur steigern, wenn sie die abergläubischen Fixierungen und Ver-
wechslungen zerstört.
In der Religion ist nun, soweit man vom Philosophieren zu sehen vermag, die cha-
rakteristische Neigung, das Transzendente als sinnliche Partikularität - nämlich als
das spezifisch Heilige - in der Welt anzutreffen. Für Philosophie dagegen kann in je-
der Gestalt der Sinnlichkeit und empirischen Wirklichkeit die Wahrnehmung der
Transzendenz geschehen aus dem Ursprung der geschichtlich vielfachen Freiheit als
der Stätte dieser Wahrnehmungsfähigkeit. Grundsätzlich kann alles heilig werden
und ist nichts - allgemeingültig und für alle - ausschließend heilig. Das reale Symbol
der Chiffre scheint sich - mit anderen Worten - in der Religion zur sinnlichen Reali-
tät des Übersinnlichen zu verendlichen - wie es sich in der ästhetischen Anschauung
zur Nichtigkeit bloßen Bedeutens entleert. Die verworfene Alternative tritt unwill-
kürlich wieder auf, wenn von der Philosophie her die religiösen Inhalte in ihrer kulti-
schen, dogmatischen, institutionellen Gestalt erblickt werden. Der Philosophierende