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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0214
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Wirklichkeit

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|Die erste Frage: 79
Religion ist bezeugt durch Heldentum des Leidens und des Handelns, durch Schöp-
fungen der Kunst und Dichtung, durch ein außerordentliches, als Theologie nieder-
gelegtes Denken. Die Wirklichkeit der Transzendenz ist durch die Wirklichkeit dieses
Glaubens an sie vermöge der Schöpfungen dieses Glaubens unvergleichlich nahe ge-
bracht.
Kann ich im Philosophieren so entschieden bei der Wirklichkeit sein wie in der Religion?
Hat Philosophieren von sich aus diese Wirklichkeit, aus der zu leben möglich ist, und
die in jeder Lage standhält wie religiöse Wirklichkeit?
Die Antwort ist: Die Wirklichkeit der Religion ist durch Philosophie nicht zu errei-
chen. Sie ist anders - vielleicht mehr - als Philosophie vergegenwärtigen, begreifen
kann. Ihrer Positivität hat die Philosophie keine gleiche zur Seite zu setzen. Trotzdem
ist das Philosophieren nicht ohne Positivität, und zwar eine solche, deren Grundcharak-
ter ihm in der Religion, wenn nicht verloren zu gehen, so doch bedroht scheint.
Der philosophische Glaube ist die Substanz eines persönlichen Lebens; er ist die Wirk-
lichkeit des Philosophierenden in seinem geschichtlichen Grunde, in dem er sich ge-
schenkt wird.
Im Philosophieren erfahre ich die Wirklichkeit der Transzendenz, ohne Vermitt-
lung, durch mich selbst als das, was nicht ich selbst bin.
Der philosophische Glaube - keiner Institution fähig und vielleicht in jeder Insti-
tution möglich - spricht sich aus und lebt in der Mitteilung des philosophischen Geis-
terreiches, - in diesem verstehenden und verwandelnden Zueinandersprechen der
Denker -, in dieser nirgend endgültig faßbaren, trotz Feindseligkeit und Wesensver-
schiedenheit alle verbindenden Erscheinung der einen philosophia perennis, an der
alle teilhaben und die niemand zu eigen besitzt.
| Der philosophische Glaube ist der unerläßliche Ursprung allen echten Philoso- 80
phierens. Aus ihm erfolgt die Bewegung des eigenen Lebens in der Welt, um die Er-
scheinungen der Wirklichkeit zu erfahren und zu erforschen und um dadurch um so
heller die Wirklichkeit der Transzendenz zu erreichen. Ursprung, Bewegung und Ziel
verwirklichen sich doch nur jeweils in geschichtlicher, unwiederholbarer Gestalt.
Der philosophische Glaube, in dem die Wirklichkeit ergriffen wird, ist, weil undog-
matisch, keines Bekenntnisses fähig. Der Gedanke ist ihm der Übergang aus dem dunk-
len Ursprung in die Wirklichkeit; er ist daher als bloßer Gedanke ohne Wert, sinnvoll
nur durch seine erhellende, seine ermöglichende Wirkung, durch seinen Charakter
als inneres Handeln, durch seine beschwörende Kraft.
Die zweite Frage:
Die Charakteristik der religiösen Wirklichkeit, die wir versuchten, ist vom Philoso-
phieren her gesehen, nicht aus der religiösen Wirklichkeit selbst gesprochen. Hat sie
nicht von vornherein die Haltung einer verwerfenden Deutung, von vornherein den
 
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