I6o Existenzphilosophie
was ich noch nie so bewußt gewesen war, deutsch, nicht im nationalen, sondern im
ethischen Sinne.289 Ich trotzte mit dem eigenen geglaubten deutschen Wesen gegen
die immer schrecklicher, immer verwahrloster, immer menschenwidriger werdende
Umwelt, vor der es nur Verstummen gab, wenn man leben wollte.
In diesen Vorlesungen sagte ich, was man gefahrlos sagen konnte: nur Philosophie.
Das blieb möglich, weil die Nationalsozialisten von den obersten Leitern bis zu den
kleinsten Helfern bei ihrer im Organisatorischen, Technischen, Propagandistischen,
Sophistischen durchaus überragenden Intelligenz in Bezug auf das Geistige von einer
fast unglaublichen Dummheit (im Unterschied von den russischen Kommunisten)
waren. Zudem verachteten sie die Philosophie, die ja doch niemand verstehe.
Was in diesen Vorlesungen gesagt ist, galt nicht dem Augenblick, war aber in der
Ausweglosigkeit des Augenblickes so formuliert. In den gedanklichen Vollzügen
schwingt etwas aus diesem Hintergrund. Ich war später ermutigt, wenn ich gelegent-
lich hörte, wie mir persönlich fremde Menschen bei der Lektüre dieser Schrift einen
»Trost« erfuhren, wie ihn Philosophie zu geben vermag durch ihren Anspruch.
In der totalen Bedrohtheit geschah die Huldigung an die Vernunft, die Bindung an
die Wissenschaften, die Vergewisserung des Wesentlichen, das Denken in den Grund
90 allen Seins, - aber der Inhalt als solcher war so wenig von | der zeitlichen Situation be-
stimmt, daß ich keinen Satz darin finde, den ich als zeitgebunden und damit als ver-
gangen sehe. Was vom Umgreifenden, von der Wahrheit, von der Wirklichkeit gesagt
wird, besteht ohne jene Not, in der es gedacht wurde.
Basel, Mai 1956.
Karl Jaspers
was ich noch nie so bewußt gewesen war, deutsch, nicht im nationalen, sondern im
ethischen Sinne.289 Ich trotzte mit dem eigenen geglaubten deutschen Wesen gegen
die immer schrecklicher, immer verwahrloster, immer menschenwidriger werdende
Umwelt, vor der es nur Verstummen gab, wenn man leben wollte.
In diesen Vorlesungen sagte ich, was man gefahrlos sagen konnte: nur Philosophie.
Das blieb möglich, weil die Nationalsozialisten von den obersten Leitern bis zu den
kleinsten Helfern bei ihrer im Organisatorischen, Technischen, Propagandistischen,
Sophistischen durchaus überragenden Intelligenz in Bezug auf das Geistige von einer
fast unglaublichen Dummheit (im Unterschied von den russischen Kommunisten)
waren. Zudem verachteten sie die Philosophie, die ja doch niemand verstehe.
Was in diesen Vorlesungen gesagt ist, galt nicht dem Augenblick, war aber in der
Ausweglosigkeit des Augenblickes so formuliert. In den gedanklichen Vollzügen
schwingt etwas aus diesem Hintergrund. Ich war später ermutigt, wenn ich gelegent-
lich hörte, wie mir persönlich fremde Menschen bei der Lektüre dieser Schrift einen
»Trost« erfuhren, wie ihn Philosophie zu geben vermag durch ihren Anspruch.
In der totalen Bedrohtheit geschah die Huldigung an die Vernunft, die Bindung an
die Wissenschaften, die Vergewisserung des Wesentlichen, das Denken in den Grund
90 allen Seins, - aber der Inhalt als solcher war so wenig von | der zeitlichen Situation be-
stimmt, daß ich keinen Satz darin finde, den ich als zeitgebunden und damit als ver-
gangen sehe. Was vom Umgreifenden, von der Wahrheit, von der Wirklichkeit gesagt
wird, besteht ohne jene Not, in der es gedacht wurde.
Basel, Mai 1956.
Karl Jaspers