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Stellenkommentar
zu der kein Wissen dringt« (130). Die zweite Sprache entsteht »im Widerhall«, quasi im Reso-
nanzraum der ersten, löst sich aber narrativ »von jenem Ursprung und macht als Erzählung,
Bild, Gestalt, Gebärde zu einem übertragbaren Inhalt, was inkommunikabel schien« (129);
neben die »Sprache des Seins« tritt so die »Sprache des Menschen«. Sie verbindet die schein-
bare Kontingenz des Erzählten mit der Darstellung von typischen Ereignissen, die »Grund
und Wesen des Daseins« (ebd.) bestimmen: Der Mythos berichtet in Form einer Geschichte
nicht über etwas, das einmal geschehen, sondern immer der Fall und in diesem Sinne >die
Wirklichkeit< ist. Vgl. auch Die Frage der Entmythologisierung, 18-19.
265 fraglosen! EA: »fraglichen«, von Jaspers in seinem Handexemplar korrigiert.
266 Joh 20, 24-29. Ob Thomas Jesus tatsächlich berührt (wie Jaspers auch in Der philosophische
Glaube angesichts der Offenbarung, KJG I/13, 231 unterstellt), ist umstritten, vgl. G. W. Most:
Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas, München 2007 [dt.].
267 Jaspers' Argumentation lässt sich (in diesem Punkt) vergleichen mit Positionen der »Refor-
mierten Erkenntnistheorie«: Wenn religiöse Überzeugungen auf Wahrnehmungen oder
Erfahrungen zurückgehen, die korrekt funktionieren, dann sind diese Überzeugungen gut
begründet (vgl. A. Plantinga: Warrant and Proper Function, New York 1993) - an die Stelle des
korrekt Funktionierens tritt bei Jaspers die eigene Wirklichkeit des Selbstseins, vgl. z.B. Phi-
losophie III, 150: »Wie die Sinnesorgane intakt sein müssen, damit die Wirklichkeit der Welt
wahrgenommen werden kann, so muß das Selbstsein der möglichen Existenz gegenwärtig
sein, um betroffen zu werden von der Transzendenz.«
268 zerstreute Keime und Teile des Wahren! Anspielung auf die seit Justin etablierte Lehre, dass
Spermien des göttlichen Logos auch in die Bewusstseine vorchristlicher Zeiten ausgestreut
gewesen seien, was den antiken Philosophen und Dichtern zumindest partiell Einblick in
die Wahrheit gestattete, vgl. Justin, Apologia II, 13 (rov onsppaTiKoi)Oeiov Loyov, PG 6, 465).
269 kein Heil außer der einen wahren Kirchel Die erst später in einem exklusiv katholischen
Sinne gebrauchte Wendung datiert zurück auf den sogenannten »Ketzertaufstreit«, in dem
der karthagische Bischof Cyprian (-200-258) die Heilsunwirksamkeit der von »Ketzern«
oder »Häretikern« vollzogenen Taufe mit dem Hinweis begründete, außerhalb der Kirche
gebe es kein Heil (PL 3, 1123: »quia salus extra Ecclesiam non est«). Von der römischen Kir-
che unter Stephan I. (t 257) wurde das damit verbundene subjektive Sakramentsverständ-
nis ausdrücklich abgelehnt.
270 Vgl. Philosophie I, 294: »Die Spannung ist gegenüber der Religion eine absolute: der eigent-
lich Religiöse kann Theologe, aber nicht ohne Bruch Philosoph, der Philosoph als solcher
nicht ohne Bruch ein Religiöser werden.« Noch schärfer im Nachwort von 1955 (XXXV):
»In der heutigen geistigen Situation ist unumgänglich dieses Einfache: Philosophie ist Phi-
losophie, Religion ist Religion; und Philosophie vermag nie den Gehalt der Religion zu er-
setzen, wie Religion nie den Ursprung der eigenständigen Philosophie sich zu eigen ma-
chen kann«. - Speziell mit dem Phänomen religiöser Konversion beschäftigt sich die von
Jaspers' herausgegebene Studie Wilhem Heinsius': Krisen katholischer Frömmigkeit und Kon-
versionen zum Protestantismus, Berlin 1925 (Philosophische Forschungen Heft 2). Heinsius
analysiert den Katholizismus im Anschluss an die Psychologie der Weltanschauungen als
»Geisttypus« eines autoritativen Systems (»Gehäuse des Katholizismus«), das durch die Er-
fahrung von Grenzsituationen, v.a. der Schuld, aufgebrochen werde. Der konvertierte Pro-
testant sucht den Halt nicht länger im Endlichen einer kirchlichen Organisation, sondern
Stellenkommentar
zu der kein Wissen dringt« (130). Die zweite Sprache entsteht »im Widerhall«, quasi im Reso-
nanzraum der ersten, löst sich aber narrativ »von jenem Ursprung und macht als Erzählung,
Bild, Gestalt, Gebärde zu einem übertragbaren Inhalt, was inkommunikabel schien« (129);
neben die »Sprache des Seins« tritt so die »Sprache des Menschen«. Sie verbindet die schein-
bare Kontingenz des Erzählten mit der Darstellung von typischen Ereignissen, die »Grund
und Wesen des Daseins« (ebd.) bestimmen: Der Mythos berichtet in Form einer Geschichte
nicht über etwas, das einmal geschehen, sondern immer der Fall und in diesem Sinne >die
Wirklichkeit< ist. Vgl. auch Die Frage der Entmythologisierung, 18-19.
265 fraglosen! EA: »fraglichen«, von Jaspers in seinem Handexemplar korrigiert.
266 Joh 20, 24-29. Ob Thomas Jesus tatsächlich berührt (wie Jaspers auch in Der philosophische
Glaube angesichts der Offenbarung, KJG I/13, 231 unterstellt), ist umstritten, vgl. G. W. Most:
Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas, München 2007 [dt.].
267 Jaspers' Argumentation lässt sich (in diesem Punkt) vergleichen mit Positionen der »Refor-
mierten Erkenntnistheorie«: Wenn religiöse Überzeugungen auf Wahrnehmungen oder
Erfahrungen zurückgehen, die korrekt funktionieren, dann sind diese Überzeugungen gut
begründet (vgl. A. Plantinga: Warrant and Proper Function, New York 1993) - an die Stelle des
korrekt Funktionierens tritt bei Jaspers die eigene Wirklichkeit des Selbstseins, vgl. z.B. Phi-
losophie III, 150: »Wie die Sinnesorgane intakt sein müssen, damit die Wirklichkeit der Welt
wahrgenommen werden kann, so muß das Selbstsein der möglichen Existenz gegenwärtig
sein, um betroffen zu werden von der Transzendenz.«
268 zerstreute Keime und Teile des Wahren! Anspielung auf die seit Justin etablierte Lehre, dass
Spermien des göttlichen Logos auch in die Bewusstseine vorchristlicher Zeiten ausgestreut
gewesen seien, was den antiken Philosophen und Dichtern zumindest partiell Einblick in
die Wahrheit gestattete, vgl. Justin, Apologia II, 13 (rov onsppaTiKoi)Oeiov Loyov, PG 6, 465).
269 kein Heil außer der einen wahren Kirchel Die erst später in einem exklusiv katholischen
Sinne gebrauchte Wendung datiert zurück auf den sogenannten »Ketzertaufstreit«, in dem
der karthagische Bischof Cyprian (-200-258) die Heilsunwirksamkeit der von »Ketzern«
oder »Häretikern« vollzogenen Taufe mit dem Hinweis begründete, außerhalb der Kirche
gebe es kein Heil (PL 3, 1123: »quia salus extra Ecclesiam non est«). Von der römischen Kir-
che unter Stephan I. (t 257) wurde das damit verbundene subjektive Sakramentsverständ-
nis ausdrücklich abgelehnt.
270 Vgl. Philosophie I, 294: »Die Spannung ist gegenüber der Religion eine absolute: der eigent-
lich Religiöse kann Theologe, aber nicht ohne Bruch Philosoph, der Philosoph als solcher
nicht ohne Bruch ein Religiöser werden.« Noch schärfer im Nachwort von 1955 (XXXV):
»In der heutigen geistigen Situation ist unumgänglich dieses Einfache: Philosophie ist Phi-
losophie, Religion ist Religion; und Philosophie vermag nie den Gehalt der Religion zu er-
setzen, wie Religion nie den Ursprung der eigenständigen Philosophie sich zu eigen ma-
chen kann«. - Speziell mit dem Phänomen religiöser Konversion beschäftigt sich die von
Jaspers' herausgegebene Studie Wilhem Heinsius': Krisen katholischer Frömmigkeit und Kon-
versionen zum Protestantismus, Berlin 1925 (Philosophische Forschungen Heft 2). Heinsius
analysiert den Katholizismus im Anschluss an die Psychologie der Weltanschauungen als
»Geisttypus« eines autoritativen Systems (»Gehäuse des Katholizismus«), das durch die Er-
fahrung von Grenzsituationen, v.a. der Schuld, aufgebrochen werde. Der konvertierte Pro-
testant sucht den Halt nicht länger im Endlichen einer kirchlichen Organisation, sondern