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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0039
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36

Grundsätze des Philosophierens

Menschen haben ihr Leben eingesetzt im solidarischen Kampf für ein gemeinsames Da-
sein in der Welt. Das geschah entweder3 unter dem beruhigenden13 Befehl einer geglaubten
Autorität, sodass der Glaube an diec Autorität Quelle des Unbedingten wurde (während die
Autorität sonst durchweg nur den Gehorsam dessen findet, der gehorcht, weil er durch den
Gehorsam leben will)d. Oder es geschah, weil Einzelne als solche6 einer unbedingten For-
derung gehorchten: sie bewahrten die Treue dort, wo Treulosigkeit alles zunichte machen,
das in Treulosigkeit gegründete* 1 Leben vergiftet sein würde, wo dieser Verrat des ewigen
Seins das nun noch bleibende Dasein leer und unselig werden liesse; sie taten nicht, was ihr
Leben hätte erhalten können, weder in Handlung noch in Bekenntnis.
Die reinste Gestalt ist vielleicht Sokrates. In der Helle seiner Vernunft, lebend aus
dem Umgreifenden des Nichtwissens, ging er unbeirrbar, ohne Störung von® Leiden-
schaften der Empörung, des Hasses, des Rechthabens, seinen Weg; er machte kein Zu-
geständnis, ergriff nicht die Möglichkeit der Flucht, und starb heiteren Sinns, es wa-
gend auf seinen Glauben hin.19
Es gab Märtyrer von reinster sittlicher Energie in der Treue zu ihrer Kirche, wie Tho-
mas Morus.20 Fragwürdig sind manche andere Märtyrer. Für etwas sterben, um es zu
bezeugen, bringt leicht11 eine Zweckhaftigkeit und damit Unreinheit in das Sterben.
Wenn Märtyrer1 angetrieben wurden von dem Drang zu sterben in Nachfolge' Chri-
sti, von einem Todesdrang, der die Seele verschleiert durchk hysterische Erscheinun-
gen, so wuchs die Unreinheit.
Selten sind die philosophischen Gestalten, die, ohne eine ihnen wesentliche Zu-
gehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft in der Welt, auf sich allein vor Gott ste-
hend, den Satz verwirklichten: Philosophieren heisst sterben lernen.21 Seneca, der jah-

a entweder im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu wohl auch
b beruhigenden im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu beschwingenden
c die im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu diese
d (während die Autorität sonst durchweg nur den Gehorsam dessen findet, der gehorcht, weil er
durch den Gehorsam leben will) im Vorlesungs-Ms. 1945/46 gestr.
e Oder es geschah, weil Einzelne als solche im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Dieser Glaube be-
freite den Menschen aus unendlicher Unsicherheit, ersparte ihm eigene Prüfung. Im Unbeding-
ten dieser Gestalt war eine heimliche Bedingung verborgen. Im Zerfallen des bedingenden Auto-
ritätsglaubens entsteht daher eine vernichtende Leerheit, damit aber zugleich der Anspruch
nunmehr an den Menschen selbst, dass er in Freiheit gewinne, was eigentlich Sein ist. Dieser Weg
wurde beschritten, wo Einzelne ihr Leben einsetzten, weil sie als sie selbst
f in Treulosigkeit gegründete im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu in der Treulosigkeit gerettete
g von im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu durch
h leicht im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
i nach Märtyrer im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. gar
j sterben in Nachfolge im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu sterben, etwa in vermeintlicher Nach-
folge
k verschleiert durch im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu nicht selten verschleierte durch nach-
weisliche
 
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